Calyon Bärenflanke

Schmerzlich stieß er ein gepeinigtes Stöhnen aus, während der andere Körper sich noch immer weiter in ihn schob. Wann würde diese Hölle endlich enden? Tränen in den Augen, ein Knurren in der Kehle versuchte er erneut sie Arme frei zu bekommen. Aber wieder war es nur der peinigende Schmerz, als die Fesseln sich erneut in seine Haut zerrten, und das hämische Lachen hinter ihm, das erklang. Wieder stieß er ihn fester, Calyon musste schnaufen. Wenn alles andere keine Linderung brachte, die schwersten Schmerzen konnte er kurzzeitig wegatmen. Nur kurz, aber immerhin. Der helle Schein des Tages fiel in die karge Kammer, auf das morsche, knarrende Bett, das weißlich gelbliche Bettzeug und die beiden Körper, die sich in vermeintlicher Eintracht ineinander schoben. Eintracht war es nicht, die er verspürte, als die Hand des Erwachsenen sich um seinen Hals legte und zuzudrücken begann. Eintracht war es nicht, die er spürte, als endlich die letzten schmerzhaften Stöße sich in ihn schoben. Eintracht war es nicht, als er danach umgeworfen wurde. Und es war auch keine Eintracht, als er danach wie Vieh erneut gekettet wurde, sich nicht regen konnte. Und noch weniger Eintracht war es, als er die Zähne des anderen an sich spürte, spürte, wie dessen Lippen und Zunge in ihm verachtenswerte Gefühle weckten. Schweiß stieg ihm auf, sein Körper stöhnte. Immerhin dem Körper schien das hier zu gefallen. Immerhin. Doch niemals, niemals würde er sich auch geistig dem hingeben, was hier geschah. Tag für Tag. Manchmal sogar mehr als einmal. Der Ältere würde erst aufhören, wenn auch er vor Kraft nicht mehr konnte. Oh, es sollte alles schneller gehen. Doch wie immer musste er sich dem Spiel fügen, zulassen, dass der andere sich von ihm abwandte, schließlich doch wieder mit den Fingern über ihn strich, sich rhythmisch daran klammerte nur um wieder abzulassen. Unter Tränen und Knurren zwang Calyon sich ein Fauchen hervor. Ein Fauchen, das nur ein müdes Lächeln im Gesicht über ihn erzeugte. Ein Lächeln, das verriet, was nun geschehen würde. Alles auf Anfang. Abermals wurde der junge Elf dazu veranlasst ein gepeinigtes Stöhnen auszustoßen, als er erneut den wohl bekannten Schmerz erfuhr. Zärtlichkeit war fehl am Platze, aus Liebe geschah das alles hier sowieso nicht. Er war Schüler und Knecht. Nicht nur für die Lehren der arkanen Magie.

Zitternd wachte der junge Elf auf. Nur die rot entzündeten Male an seinen Hand- und Fußgelenken zeugten vom Tun des Tages. Wieder würde er sich eine lange Robe anziehen müssen. Wieder penibel darauf achten müssen, dass die Ärmel zu lang waren. Viele davon hatte er nicht mehr, musste er feststellen, als er an seinen Kleiderschrank ging. Jeder Schritt war eine Qual, aber er konnte es sich nicht leisten das zu zeigen. Jedes Zeichen von Schwäche hatte nur zur Folge, dass das Ganze länger und ausufernder würde. Öfter als einmal am Tag von statten ging. Knurrend schlug er die Tür des Schrankes zu, warf sich in das übergroße Kleidungsstück und band es notdürftig mit einem Stück schmalem Stoff fest. Als nächstes folgte der notorische Griff zum Buch, dann zur Türklinke. Nur eine Drehung war dafür von Nöten, innerhalb einer Armlänge konnte er sämtliche Möbelstücke der kleinen Kammer erreichen, wenn er in deren Mitte stand. Sogar die prächtigen Vorhänge des Fensters vermochte er so zu bewegen. Er holte tief Luft, fauchte und öffnete die Tür. Seine Schritte, bei jedem war er wohl bedacht weder zu fluchen noch vor Schmerz einzusacken, führte der dürre Junge in einen wendelartigen Gang. Danach durch eine weitläufige, prächtig geschmückte Halle. Anschließend durch einen engen Gang und schließlich war er draußen im Hinterhof. Einmal quer drüber und am gegenüberliegenden Ende hinein. Es roch nach frisch Gekochtem, die dicke Köchin hatte wieder ein Festmahl auf die Beine gestellt. Verschmitzt grinste er sie an, bekam ein warmes, mütterliches Lächeln, sowie einen Laib Brot und einen Topf Schmalz dazu zurück. Lachend bedankte er sich und verschwand wieder, eine Frau zurücklassend, die sich freute ein so unbeschwertes und agiles Kind zu sehen.

So schnell sein Lächeln in sein Gesicht getreten war, als er in die Küche eintrat, so schnell verschwand es jetzt auch, als er dieser den Rücken kehrte. Er nahm den überdachten Weg aus dem Hof hinaus und sah sich um. Elfen aller Arten hielten Trubel in der engen Verkaufsgasse: große, mit dunklen Haaren, dunkler Haut und langen Ohren und kleinere, mit heller Haut, kurzen Ohren und hellem, blondem Haar. Genauso wie er es hatte. Weißblondes Haar, aber es war eng zurück gebunden. Keine Strähne fiel ihm ins Gesicht, behinderte ihn beim Sehen. Durfte es auch nicht, er hasste es, wenn er durch Haare hindurch auf seine Bücher schauen musste. Der einzige, der sich immer wieder daran zu schaffen machte, sie ewig kämmte, sie wieder zerwuschelte um sie noch einmal zu kämmen, war sein Meister. Ihm entfuhr ein Knurren, auf das er einige seltsame Blicke erntete. Verständlich, musste es doch ein seltsames Bild sein: Ein fahlhäutiger, kleiner und dürrer Junge mit schlohweißem Haar, der aggressive Knurrlaute von sich gab. Entschuldigend lächelte er und machte, dass er davon kam. Seine Füßen trugen ihn den gewohnten Weg, an vielen Verkaufstständen vorbei, um einige Ecken herum. Die Straßen wurden breiter, bis er sich schließlich auf einem Platz wiederfand, in dessen Mitte ein Brunnen, gekrönt mit der Statue der geliebten Königin. So wirklcih kannte er ihren Namen nicht, er hörte nur wie alle Welt sie „Blume des Lebens“, „das Licht der Lichter“ und solches nannten. Im Grunde scherte es ihn aber auch nicht. Die Statue war zwar wirklich schön, einige Männer fielen sogar ab und an hin, wenn sie sie ansahen (warum auch immer...), aber letztlich war es doch einfach nur eine Statue. Inmitten eines Brunnens. Der Brunnen hatte einen Rand, der breit und flach war. Er eignete sich wundervoll sich im Schneidersitz darauf zu setzen, das Brot mit dem Schmalz zu essen, ein Buch vor sich aufzuschlagen und zu lesen. Wie jeden Tag also verbrachte er seine erste wache Stunde damit, sich in aller Ruhe einzulesen, ein wenig zu denken und zu träumen.

Als es auf dem Platz einen lauten, aber dumpfen Knall gab und sich zwei langohrige Elfen danach ebenso lautstark anfingen zu streiten, blickte Calyon das erste Mal von seinem Buch auf. Brot und Schmalz waren vertilgt, nur noch das leere Töpfchen stand neben ihm. Um die beiden, sich streitenden Männer, hatte sich eine kleine Traube gebildet. Der Blick des Jungen erstarrte. Da stand sie! Mitten zwischen den vielen hell- und dunkelhaarigen Köpfen. Er kannte nicht einmal ihren Namen, sah sie aber jeden Tag. Das schlanke, ältere Mädchen war die Tochter der dicken Köchin und vom Meister mit der Wäsche betraut worden. Langes, blondes Haar hatte sie, dass sie stets zu einem Zopf zusammen flocht und sich über die Schulter hängen ließ. Auch jetzt hatte sie einen Weidenkorb mit Wäsche darin dabei. Calyons Herz bliebt einen Moment lang stehen, als sie sich umwandte, genau in seine Richtung, und sich aus der Traube von Elfen loseiste. Den Blick hob sie vom Boden. Für den Jungen schienen Sekunden zu Stunden zu werden. Mit einem Augenaufschlag, der dem einer Göttin glich, sah sie ihn an und schickte ihm das bezaubernste Lächeln seines Lebens entgegen. Sein Herz stockte. Bei den Göttern, dieser Moment sollte niemals, wirklich niemals, zu Ende gehen. Sein Blick traf den ihren, unfähig sich überhaupt zu regen starrte er sie an und dann… war der Augenblick vorbei. Sie nickte, wandte sich halb um und setzte sich in Bewegung. Etwas enttäuscht und wie in Paralyse blieb der junge Elf zurück. Er blinzelte dümmlich in die Welt hinein, den Blick auf jenen Punkt geheftet, an dem sie so eben noch gestanden hatte. Viele Sekunden später schluckte er, entfloh so seiner Reglosigkeit und schüttelte sich. Sie musste nach Hause gehen! Sicherlich! Und das Zuhause von ihm und ihr war das gleiche Haus! Also brauchte auch er nur nach Hause gehen! Eilig klappte er sein Buch zu, klaubte den Tontopf und rannte, als ob es um sein Leben ginge, zum Turm zurück. Gehetzt, aber bis über beide Ohren strahlend kam er im Hinterhof an und blieb abrupt stehen. Wo war sie hin? Wo nur? Suchend wandte er sich um, erhaschte dabei das Winken der dicken Frau in der Küche. Etwas niedergeschlagen und ein leises Murren ausstoßend schlurfte er ihr entgegen. Ob ihm das Frühstück geschmeckt hatte. Ja, sicher. Er streckte ihr den leeren Tontopf entgegen, sie nahm ihn an und knuffte ihn mit einem strahlenden Lächeln in die Wange. Mehr essen müsste er. Viel zu dünn sei er. Man sähe seine Rippen. Gesund sei das nicht. Und die hohen Wangenknochen erst! In dem wundervollen Gesicht! Sicher würde er mal einer der hübschesten Männer der Stadt werden! Nur eben nicht, wenn er so dünn wäre. Essen sollte er. Viel zu dünn war er. Doch Calyon schenkte ihr seine Aufmerksamkeit nicht. Es war schließlich jeden Tag dasselbe: Mit mütterlicher Sorge brabbelte sie auf ihn ein, erteilte gut gemeinte Ratschläge, gab ihm Kleinigkeiten zum Essen mit. Doch dieses Mal sah er sich suchend um. Nein, hier waren keine langen, zu einem Zopf geflochtenen blonden Haare. Seufzend sah er die Köchin wieder an. Diese schien dann doch seine Unaufmerksamkeit zu bemerken. Ihr Lächeln verebbte nicht, als sie ihm sagte, er solle doch schnell zum Meister gehen. Er habe schon nach ihm gesucht. Einen Moment erstarrte der Junge, dann zeigte er sein strahlendes Lächeln und huschte über den Innenhof in den Turm hinein. Was ein wundervoller Junge, dachte die Köchin. Er würde es schaffen. Endlich einer, der sich nicht wieder den Studien abwandte. Ein wenig Stolz keimte in ihr auf. Ja, er war schon putzig. Sie hoffte innerlich wirklich, dass es dem agilen Jungen gelang, ein wundervoller Mann zu werden. Und ein großartiger Magier.

Fast wie Prügel schlug die dämmrige Dunkelheit des Inneren des Turms auf ihn ein. Er taumelte wirklich für einen kurzen Moment, fing sich aber sogleich wieder. Schmerz hallte in seinem Inneren nach, wie das Echo eines Gongschlages. Einen Moment brauchte er, sich an das Dunkel zu gewöhnen. Hm. Der Meister wollte ihn sehen. Bloß… wo war er? Unmut und Beklemmung stieg in ihm auf. Eine Lehrstunde würde also abgehalten werden. Oder er musste bei irgendwelchen Experimenten helfen. Er würde mit ihm allein sein, über eine lange Zeit. Allein und ungestört. Seufzend entschloss sich der Junge sich in Richtung des Experimentierraumes zu begeben. Seine Füße hallten in der Halle wider, ebenso das schwere Knarzen der Tür zu dem großen, mit Flakons, seltsamen Aufbauten und Bücherregalen voll gestellten Raum. Das Buch legte er auf einem kleinen Tisch direkt neben dem Eingang ab. Tja, und nun? Wenn er woanders verlangt würde, würde der Meister dort auf ihn warten. Vergebens. Und sich irgendwann auf die Suche nach ihm machen. Erwischte er Calyon, durfte dieser sich auf die Strafe gefasst machen. Er kniff die Augen zusammen als die viel zu häufigen Erinnerungen an scheinbar endlos lange Tage, Schmerz und Rhythmus sich in seinen Verstand zogen. Nein. Nein, er würde hier sicherlich richtig sein. Bestimmt war er diesmal nicht sauer. Bestimmt würde er ihn in Ruhe lassen! Schwer seufzend trat er an das hohe, verschnörkelte Fenster, schob den rötlich schimmernden Umhang beiseite. Die Arme legte er verschränkt auf dem Fenstersims ab und blickte nach draußen. Das rötliche Licht der Abenddämmerung legte sich über die Stadt, ließ Dächer, Säulen, Statuen und Häuser festlich und prunkvoll strahlen. Ah, wundervoll sah das aus. Als ob… ja, als ob die ganze Welt in Frieden läge, einfach perfekt wäre. Sein Blick strich über Dächer hinweg und wandte sich schließlich in den Innenhof. Calyon schreckte hoch. Oh, da stand sie! Und sie wusch Wäsche! Er hatte nie jemanden gesehen, der mit solch einer Ästhetik und so grazil die Wäsche waschen konnte. Immer wieder tunkte sie den Stoff in den Zuber hinein, wrang ihn dann mit aller Kraft aus und zog ihn schrubbend über das Waschbrett. Einzelne Haarsträhnen hatten sich aus dem Zopf gelöst, fielen ihr umspielend ins Gesicht. Ihre wundervollen Ohren zuckten, als ein Vogel zwitscherte und schließlich in ein fröhliches Lied einstimmte. Sie blickte mit einem strahlenden Lächeln zu dem kleinen Tier auf, betrachtete es eine Weile. Das rötliche Licht umspielte ihre Haut, betonte die strahlenden Augen und die fein geschnittenen Wangenknochen. Die zierliche Nase der Elfe badete in hellem Licht. Träumend blickte der Junge auf sie hinab, schien vollkommen weg gedröselt zu sein. „Ein wunderschönes Mädchen, nicht?“ Leise, schleichend und schmeichelnd schob sich die Stimme des Meisters in seinen Verstand. Er zuckte zurück, sah erschrocken und halb panisch in das Gesicht des Mannes, der neben ihm am Fenster stand. Zu ihm heruntergebeugt hatte er einen Arm um den dünnen Jungenkörper geschlungen, ohne dass Calyon auch nur ansatzweise etwas davon mitbekommen hatte. Zärtlich und liebevoll strichen seine Fingerkuppen über den groben Stoff der Robe direkt über seinen Rippen. „Aber weißt du, mein Liebling, sie ist bald eine Frau. Selbst, wenn du sie dazu bekommen könntest dir etwas Zeit zu schenken… sie wird von dir weichen. Sie wird sich einen anderen suchen, diesen heiraten und ein unbeschwertes Leben mit ihm führen. Wenn du Glück hast kommt sie ab und an zu dir zurück, erzählt dir wie wundervoll das ist und du wirst vor Schmerz zergehen…“ Bei den letzten Worten hatte sich das Gesicht des Mannes ihm zugewandt. Calyon blickte noch immer in den Hof hinunter, dem waschenden Mädchen zusehend. Er hatte zweifelnd die Brauen gehoben und wehrte sich nicht, als der Mann zärtlich gegen seine Wange hauchte und schließlich das Ohrläppchen Calyons zwischen die Lippen nahm. Liebkosend fing die Zunge des Meisters an mit dem weichen Fleisch zu spielen, zog sich zärtlich daran entlang. Wie angewurzelt verharrte der Junge, den Blick stur auf den Hof gesenkt. Ein leises, sehnsuchtsvolles Seufzen drang an sein Ohr, als der Mann sein Spiel unterbrach und dem Blick des Jungen folgte. „Du magst sie sehr, hm?“ Calyon nickte stumm. Angst keimte in ihm auf. Er ahnte, dass sein Meister in der Lage war so etwas auszunutzen. In der hintersten Ecke seines Verstands begannen Mühlen zu mahlen. Was, wenn er sie anfing zu quälen anstatt ihm? „Armes Kind. Sie wird dir nicht gehören.“ Was redete er da? Er wollte doch gar nicht, dass sie ihm „gehörte“. Verwirrt blickte der Junge zu dem Elfen auf. „Du scheinst mir nicht zu glauben.“ – „Naja sie… also… hrm mh… ich will ja gar nicht, dass sie… dass sie… also… mir… gehört…“ Gen Ende des Satzes hin wurde seine Stimme stetig leiser und zitternder. Er war nie gut darin gewesen seine Angst zu überspielen. Auch diesmal nicht. Sein Meister wusste es, ein schmeichelnd freundliches, aber hinterlistiges Lächeln zeichnete sich in seinen Zügen ab. Diesem Lächeln wollten die Augen so gar nicht nachkommen, arrogant und hinterlistig funkelten sie den jungen Elfen an. „Aber du willst bei ihr sein.“ Calyon nickte zögerlich, das Lächeln des Mannes wurde einen Tick breiter. Ein Unwissender hätte es nicht bemerkt, aber nach den Jahren hier fiel es dem Jungen sofort ins Auge. Nein, was hatte er vor? Welches Spiel kam ihm in den Sinn? „Dann… geh zu ihr hin. Frag sie, ob sie dich genauso mag. Frag sie, ob sie Zeit mit dir verbringt. Geh und frag sie, mein Liebling.“ Mit großen Augen blickte der Junge dem Mann entgegen. Was wollte er da? Er konnte doch nicht einfach da hinunter gehen und… so mit ihr reden? „Na komm, mein Schatz. So schwer ist es nicht. Nur ein paar wenige Worte.“ Er zog die Brauen zusammen. Gut, also wenn… wenn er das so wollte… Wieder nickte Calyon zögerlich, wandte sich um. Wie von allein und erstaunlich freiwillig entließ ihn der Mann aus seiner Berührung, verharrte am Fenster und ließ ihn gehen. Wie im Traum lenkte der junge Elf seine Schritte aus dem Raum heraus.

Als hinter ihm die schwere Tür knarzend zu fiel, erstarrte er erstmal. Er atmete durch. Was machte er? Es wurde erwartet, dass er zu ihr hin ging. Aber so recht wollte er gar nicht. Irgendetwas führte der Mann im Schilde. Irgendetwas stimmte an seinem Verhalten nicht. Normalerweise hätte er seinen Schüler genommen, eine Schimpftirade losgelassen und dabei mit irgendetwas auf ihn eingeprügelt. Nur um sich danach an den frisch geschlagenen Wunden zu weiden. Was also war hier los? Benebelt von Gedanken trat er schließlich auf den Hof hinaus. Das blonde Mädchen hob den Blick und lächelte freundlich. Doch dieses Mal blieb Calyons Herz nicht vor Freude stehen. Viel zu sehr grübelte er nach. Und versuchte seine zweischichtige Angst zu bekämpfen. Zum einen, wegen der Ungewissheit dessen, was der Meister im Schilde führte. Zum anderen weil er gerade dem Mädchen gegenüber stand, dem er so viel Faszination schenkte. Und mit dem er sich einfach nicht traute zu reden. Sie schrägte den Kopf und sprach. Ihre Stimme war hell und freundlich, hatte etwas Sanftes an sich. Wie liebliches Vogelzwitschern fing Calyon sie auf und verwahrte sie tief in sich drin. Ob irgendetwas nicht in Ordnung sei. Er sehe so nachdenklich aus. Zögerlich schüttelte er den Kopf. Sie schwieg kurz, er schaute einfach still in ihre Richtung. Was er hier dann mache. Irritation schwang in ihrer Stimme mit. Calyon schluckte, dann holte er tief Luft. Leise und zögerlich sprach er, die Unsicherheit selbst in Person. Dass er sie gern hat. Sie sich gern ansieht. Gern Zeit mit ihr verbringen würde. Fast genuschelt hallten seine Worte in ihrem Schädel wieder. Sie ließ von ihrer Wäsche ab und richtete sich auf. Nicht einmal ihren Namen kannte er, was sollte das? Ärgerlich klang sie, Calyon senkte den Blick und machte einen Schritt rückwärts. Was er sich erdreistete. Viel zu jung war er, außerdem ein seltsamer Eigenbrötler. Immer nur am Fenster hocken, Lesen, Lernen. Niemals ginge er mit auf die Feste. Gefragt hatte sie doch schon so oft! Immer war das Lesen wichtiger! Außerdem müsse er Essen bei ihrer Mutter klauben. Was das alles sollte! Unverständlich und dann so eine Unverschämtheit! Sie nahm ein nasses Stück Stoff und schlug es gegen das Waschbrett. Laut platschte es, entließ Wassertropfen in weitem Bogen. Sie schnaufte, war wirklich verärgert. Was er sich erdreistete! Nach all der Zeit hier! Hielt sich für etwas besseres, musste nicht mit dem Rest des Haushalts leben. Immer der Einzelne, immer bevorzugt, immer im Einzelunterricht. Und dann ließ der Herr sich zu so etwas herab! Calyon wankte. Die Worte des Mädchens dröhnten in seinem Schädel, brannten sich in sein Herz wie schneidendes Eis. Früher hätte sie so oft versucht ihn zu irgendwas zu bewegen! Immer nur sei er weggelaufen und habe sich vor ihr versteckt. Gemieden habe er sie! Und jetzt? Jetzt war sie davor verheiratet zu werden. Mit dem Jungen vom Fleischer gegenüber. Damit das Essen ein bisschen günstiger zum Haus kam. Und so viel Aussteuer musste da auch nicht berappt werden. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie plötzlich schwieg. Der Junge ließ die Schultern hängen, wagte keinen Blick nach vorn. Lediglich ein lautes Schnaufen vernahm er und dann schnelle, sich entfernende Schritte, als sie davon eilte.

Wie benebelt blieb er stehen. Der Meister hatte recht gehabt. Er würde niemals Zeit mit ihr verbringen. Vielleicht, wenn sie gutmütig war, würde sie ab und an zu ihm kommen, erzählen wie gut es ihr ging. Er würde zuhören und vor Schmerz zergehen. Er seufzte und umklammerte diese Erkenntnis fest. Nein, er würde nicht vor Schmerz zergehen. Denn er würde es nicht mehr tun. Sich nicht mehr jemand anderen an seine Seite wünschen. Nicht, wenn er diesen Preis zu bezahlen hatte. Langsam führte er seine Schritte wieder ins Haus hinein. Der Mann, mit einem strahlenden Lachen im Gesicht, empfing ihn schon in der Halle. Die Arme weit ausgestreckt lief er dem Jungen entgegen. „Na, was habe ich gesagt? Komm zu mir, mein Liebling. Ich verlasse dich nicht.“ Richtig. Würde er auch nicht. Tränen stiegen in Calyons Augen, als er auf den Mann zuging und sich an ihn drückte. Er würde nicht fort gehen. Er würde ihn tagtäglich weiter leiden lassen. Aber auch das war eine Art Sicherheit. Der Meister schlang die Arme um den dürren Körper, ließ die Hände zur Taille des jungen Elfen wandern. Eines Tages würde sich Calyon daran gewöhnen. Und dann war es gut, er würde nicht mehr leiden. Er spürte, wie die Finger des Mannes sich langsam unter den Stoff schoben, er den Kopf senkte und die Schulter des Jungen begann zu liebkosen. Nein, er würde nicht gehen. Er würde ihn nicht allein lassen.

Was folgte war die erste Nacht, die Calyon willentlich verbrachte. Er zögerte nicht zu gehorchen. Er zögerte nicht freiwillig zu leiden. Er wehrte sich nicht. Und es wurde schamlos ausgenutzt. Der Meister hatte sich sein Spielzeug geschaffen und er würde es behalten, bis es gänzlich zerbrach. Oder er es nicht mehr wollte. Doch was beide nicht ahnten war, dass der Junge, obgleich kränklich, dürr und klein und eigentlich aufgegeben hatte, innerlich noch eine andere Seite hatte. Langsam schlich sie sich in seine Seele ein. Langsam nahm sie das Herz des Heranwachsenden ein. Langsam berührte sie seinen Verstand. Unbemerkt von beiden grub sie sich in den jungen Elfen, ließ Gedanken entstehen, die noch zu schwach waren und wieder verworfen wurden. Sie ließ Stimmungen entstehen, die noch unterdrückt werden konnten. Sie ließ Gefühle entstehen, die bald nach Freiheit riefen. Und so geschah es, dass Calyon eines Abends aufwachte und die Decke anstarrte. Er war nicht mehr in der kleinen, engen Kammer. Mittlerweile war ein Jahr vergangen. Ein Jahr, in dem sich einiges geändert hatte. Er war größer geworden, das Haar war gewachsen. Noch immer war er dünn, aber immerhin hatte er ein wenig zugenommen. Die ersten Zauber gelangen ihm, fast regelmäßig funktionierten Feuerbälle und Arkanschläge. Das Bett seines Meisters war zu seinem geworden. Er schlief mit ihm zwischen seidenen Kissen und unter teuer bestickten Federbetten. Nahezu jede freie Minute verbrachten sie zusammen. Aber nur nahezu. Ein neuer Schüler war in Calyons frühere Kammer eingezogen. Der Meister lehrte beide zusammen. Doch war nicht mehr Calyon allein es, der die körperliche Zuwendung des Mannes genoss. Während der Elf schlief vergnügte sich sein Meister anderweitig, legte sich erst nach getanem Werk zu ihm. Nur um selbiges mit ihm abzuhalten. Doch Calyon kümmerte es in der Regel wenig. Aber heute, heute war etwas anders. Er war aufgewacht, bevor sein Meister zurückkam. Still und ruhig war es, kein Laut drang an seine Ohren. Umso mehr rumorte es ihm selbst. Wilde Gedanken jagten einander, bekämpften Gefühle, und manifestierten sich. Wie er so nachdachte, über das, was geschehen war, über das, dessen er sich freiwillig hingab, entdeckte er tief in sich drin, dass es sich nicht richtig anfühlte. Verwirrt den Kopf schüttelnd setzte er sich auf. Warum nicht richtig? Er garantierte mit seiner Lehre und Hingabe hier, dass sein Vater regelmäßig liefern konnte und seine Lederei nicht schließen musste. Was also war daran falsch? Wieder schüttelte er den Kopf, das schlohweiße Haar spielte in sein Gesicht und wurde sogleich weg gewischt. Er begann in seinen Erinnerungen herumzuwühlen. Was fühlte sich nicht gut an? Er erinnerte sich, an die letzten Tage. Viel zu lernen, viel zu arbeiten, viel sich hingegeben. Nichts Neues. Dann erinnerte er sich an die letzten Wochen. Das gleiche Bild. Anschließend die letzten Monate. Das gleiche Bild. Danach folgten die letzten wenigen Jahre. Der Eintritt in dieses Haus. Viel zu lernen, viel zu arbeiten. Der anfängliche Schmerz, danach viel Hingabe. Nichts Falsches dabei. Er wollte sich weiter zurück erinnern. Doch irgendwie… ging es nicht. Er sah seinen Vater in der Lederwerkstatt vor sich. Wie er ihm erzählte, dass es keine andere Möglichkeit gab. Dass Calyon talentiert sei für die Zauberei und es so für alle das Beste wäre. Er erinnerte sich an die Trauer, die Pein und den Schmerz des Moments. Er hatte es nicht wahr haben wollen. Er hatte es nicht glauben können, dass er gehen sollte. Einfach so weg von allem, was er kannte, was ihm wichtig war. Einfach so weg von seinem Vater. Es fühlte sich zwar nicht gut an, aber es war kein großer Unterschied zu dem, was er hier erlebte. Also war es nichts Falsches. Wieder wollte er weiter zurück. Doch dieses Mal schien es ihm, als wäre er mit größtmöglicher Geschwindigkeit gegen eine Steinmauer gerannt. Benebelt hielt er sich den Kopf. Was wollte sich da nicht zeigen? Wo war der Rest seines Lebens hin? Panisch blickte er sich um. Das hier konnte doch nicht alles sein? Da war noch etwas davor gewesen, dessen war er sich mehr als sicher. Er schreckte zusammen und blickte zur Tür. Sein Meister trat ein. Er sah zwar zerfleddert aus, wie immer danach, hatte aber ein vollkommen entspanntes Lächeln im Gesicht. Bis er bemerkte, dass sein Liebster bereits wach war. „Alles in Ordnung?“ – „Nrm hrm… sicher.“ Noch einmal schüttelte Calyon den Kopf. Inzwischen war der Mann an ihn heran getreten, legte liebevoll die Hände an seine Schultern und drückte sie sacht nach hinten. Automatisch und ohne Gegenwehr ließ der Jüngere sich fallen, spreizte ohne Emotion die Beine und sah zu dem sich positionierenden Mann auf. Er war krank dieser Tage und würde nicht lange durchhalten. Der Elf schob sich unter die Decke, öffnete seine Hose und das Spiel begann. Rhythmisch schob er sich in ihn, nicht einmal mehr der geringste Anflug Schmerz erreichte Calyon. Ohne jede Gefühlsregung ließ er zu, was sich abspielte, bis der Mann sich ein letztes Mal heftig gegen ihn stieß und nahezu reglos, aber schwer atmend auf ihm liegen blieb. Der Jüngere spürte das Fieber des Mannes und rollte ihn herum, zog die Decke über dessen Körper und erhob sich. Er war wirklich krank. Innerhalb von Sekunden war er eingeschlafen, Erschöpfung allein konnte nicht der Grund sein. Innerlich meinte er, hätte er Sorge verspüren müssen. Aber er tat es nicht. Anstatt dessen wandte er sich um, zog sich an und ging aus dem Zimmer.

Er folgte dem altbekannten Wendelgang, schritt vorbei an jener Tür, die bis vor Kurzen noch die seine gewesen war. Er vernahm leises Schluchzen dahinter, doch auch das kümmerte ihn wenig. Seine Schritte führte er auf den Hof hinaus, vorbei an der jungen, hochschwangeren Frau mit dem langen, blonden und geflochtenen Zopf über ihrer Schulter. Vorbei ging er an der dicken Frau, die aus dem Küchenfenster heraus und ihm besorgt hinterher sah. Vorbei ging er an den vielen Marktständen, durch enge, gewundene Gassen und über den riesigen Platz mit dem Brunnen und der Statue. Er folgte der breiten Straße aus der Stadt heraus, nach bald einer Stunde des Gehens ließ er sogar die Stadttore hinter sich. Er lief und lief, ließ die Stadtmauer hinter sich. Er dachte nicht, lenkte nicht, fühlte nicht. Er lief einfach weiter, wie von Sinnen, wie von einer anderen Welt. Erst, als seine Füße nasskalt wurden blieb er stehen, stutzte und sah an sich herab. Er stand mitten im Wasser eines flachen Sees, umgeben von einem lichten, hellen Wald. Noch nie war er vor Sonnenuntergang überhaupt wach gewesen. Geschweige denn aus der Stadt gegangen. Und jetzt stand er hier, war gegangen, wie von allein. Calyon drehte sich im Kreis, ein kleiner Wind kam auf und spielte mit seinem Haar. Vögel zwitscherten, das Licht brach sich auf dem Wasser, spielte auf Blättern und durchbrach in leichten Fäden die Kronen der Bäume. Leise summte eine Biene an ihm vorbei, er hörte das Flügelrauschen eines Vogels über ihm. Der Elf legte den Kopf in den Nacken, versuchte das Tier zu entdecken, doch stutze er. Der Himmel war hellblau, ebenmäßig und satt. Man konnte sich verlieren darin. Es war warm, ab und an legte sich eine seichte Brise um seinen Körper. Er blinzelte überrascht. Es war schön hier. Innerlich kroch etwas in ihm hoch, das er lang schon nicht mehr verspürt hatte. Es fühlte sich gut an. Calyon wandte sich erneut um, besah sich die Umgebung. Das Gras kitzelte an seinen nackten Füßen, als er ein paar wenige Schritte ging. Es fühlte sich wirklich gut an. Noch einmal nahm er Flügelrauschen wahr, diesmal hinter sich. Es war viel deutlich als jenes von eben, musste von einem viel größeren Tier stammen. Langsam wandte er sich um. In aller Ruhe saß dort eine Eule, senkte den Schnabel über den See und begann in kleinen Schlucken zu trinken. Wie angewurzelt blieb er stehen und schaute einfach nur zu, bis das Federtier fertig war und ihn seinerseits anblickte. Sehr groß war es, hatte fedrige Ohren und lange, fedrige Augenbrauen. In dem mittelbraunen Gefieder waren in fast vollkommen symmetrischen Abständen graue Flecken eingearbeitet, wie gemalt. Die goldenen Augen musterten den Elfen. Keine Feder des Tieres stellte sich auf, nicht einmal das kleinste Zucken durchlief es. Calyon machte es ihm nach, blieb ruhig stehen, den Blick auf das feine Bauchgefieder gerichtet. „Warum bist du hier?“ Wie ein Gongschlag zog sich der Satz durch seine Gedanken, hatten seine Ohren doch keinen Laut vernommen. Dennoch war es nicht wie gesprochenes Wort, dem er da lauschte, sondern vielmehr Gefühl, dass ihm diesen Satz in den Verstand legte. Der Vogel hatte sich in keinster Weiser bewegt. Irritiert begann er zu stottern. „Ich… ich… weiß es nicht.“ Die Eule legte den Kopf schief, den stechenden Blick noch immer auf ihn gerichtet. „Trink etwas.“ Calyon zögerte, noch immer irritiert. Nach gefühlten Jahren erst setzte er sich in Bewegung, kniete sich an das Ufer und schöpfte mit den Händen etwas Wasser heraus. Er begann zu trinken und bemerkte, dass er wirklich Durst hatte. Noch immer weilte der Blick der Eule auf ihm, als er immer gieriger Schluck um Schluck aus dem See nahm. Der Vogel hüfte an seine Seite, beugte sich vor und begann ebenfalls zu trinken. „Jeder kommt hier her, wenn er trinken möchte. Du auch. Du gehörst dazu.“ Wieder verharrte der Elf irritiert, stierte den Vogel an. „Nein…. Ich… gehören in die Stadt. Ich gehöre in den Turm. Ich gehöre meinem Meister.“ Die Eule plusterte sich auf. „Sicher? Du bist hier, wie jedes Tier. Du hast Durst, wie jedes Tier. Du hast auch Hunger, wie jedes Tier. Komm, wir gehen jagen.“ Und mit mächtigem Flügelrauschen stob der große Vogel in die Luft.

Oftmals sah man dieser Tage den Magister des Turmes knurrend, fauchend und meckernd durch die Stadt gehen und Befehle seinen Bediensteten entgegen werfen. Für niemanden war es eine wirkliche Überraschung. Nicht einmal für Feloren Schattentritt, als er Besuch vom Magister erhielt. Der Elf stellte die Bestellungen bei der Lederei ein. Feloren erfuhr nie, was mit seinem Sohn geschehen war. Viele Gerüchte kamen in Umlauf. Die Entwicklung Calyons war ohnehin merkwürdig gewesen, sein Verschwinden noch mehr. Aus dem agilen, fröhlichen Jungen war ein gebrochener Heranwachsender geworden, das war jedem aufgefallen. Wo auch immer der Magister hin ging, hinter ihm, neben ihm wurde getuschtelt. Nicht lang und der neue Schüler bekam einen neuen Meister. Nicht lang und man fand den Meister Calyons in grimmigen Gedanken in seinem Stuhl, Tag und Nacht fluchend, die Vorhänge zu gezogen. Oft streifte er wie ein Wildtier durch die Straßen, rief den Namen des Jünglings. Auch dann noch, als er im Wahn anfing sinnlos Feuerbälle zu werfen. Auch dann noch, als man ihn in seinem Turm überwachte. Auch dann noch, als er begann Essen und Trinken zu verweigern. Doch irgendwann beginnt jeder zu schweigen. So auch dieser Elf.

Eines frühen Abends wachte der weißhaarige Elf mit den vielen Blättern im Haar auf. An seiner Seite hatte sich Mutter Uhu aufgeplustert und schlief noch immer den Schlaf der Gerechten. Er grinste fröhlich und erhob sich. Wie gewohnt streckte er sich, stellte dabei seine mittlerweile lang gewordenen Fangzähne und den mit Muskelansätzen überzogenen Körper durch. Gut, dann stören wir sie nicht. Und so schlich er leise aus der Höhle ins Freie. Mutter Uhu hob einen Flügel an und schaute ihm nach. Es war gut, wenn er ohne sie ging. Allein würde er mehr lernen können. Weit trugen ihn die Füße in den Wald hinein, stets hielt er sich im Schatten der Bäume verborgen. Er nahm den gewohnten Weg zum See, vorbei an dem großen Busch Farn und unter den tief hängenden Ästen der Eiche hindurch. Am Rande des Sees blieb er stehen. Da… war jemand Neues. Jemand, den er nicht kannte. Jemand, der irgendwie nicht hierher passte aber irgendwie besser als alles andere sich in diesen Wald einfügte. Dunkle Haut überzog den weiblichen, muskulös gebauten Körper. Fell, mit Schnüren auf Position gehalten, zog sich über Unterschenkel, Hüfte, Körper und Arme. Lange Ohren stachen durch hellgrün schimmerndes Haar. Sie trank in ruhigen Schlucken aus dem See, genau so wie er es zu tun pflegte. Eine Weile stand er so da und schaute einfach zu, halb verdeckt von dem mittelhohen Busch vor ihm. Schließlich erhob sie sich und wandte sich zu ihm um, als hätte sie die ganze Zeit über gewusst, dass er da war. Mit liebevollem Lächeln schrägte sie den Kopf, ließ die hellen Augen in dem weiblichen, feinn geschnittenen Gesicht leuchten. „Da bist du endlich. Ich habe gewartet.“ Calyon wich instinktiv zurück. Doch irgendetwas schien an ihr vertraut, heimelig. Irgendwie war er sich sicher, dass er eigentlich keine Angst vor ihr zu haben brauchte. So blieb sein Blick auf ihr kleben, als sie näher an ihn herantrat, etwas weniger als eine Armlänge entfernt. „So ist’s gut. Es erfüllt mich mit Freude zu sehen, dass es dir hier gut geht.“ Erstaunlich sanft schmeichelte die Stimme seinen Ohren, die träge zuckten. Unfähig auch nur einen Laut von sich zu geben blickte er zu der Frau auf. Über einen Meter größer als er selbst war sie. Sie hob einen Arm, langsam, vorsichtig, und legte die Hand in seinem Nacken ab. Ihr Lächeln hatte etwas mütterlich warmes, ihre Berührung war sanft und vertraut. Wärme kam in ihm auf, durchflutete von seinem Nacken aus seine Seele und seinen Körper. Wohlig seufzend schloss er die Augen. Angenehm war das Gefühl, verdrang ungute Emotionen und ließ Reinheit zurück. „So ist es gut. Du bist Teil der Wildnis, Calyon. Die Wildnis ist Teil von dir. Du bist die Wildnis.“ Leise nur sprach sie die Worte, nahm ihre Hand aus seinem Nacken und wandte sich ab. Ruhigen Schrittes tauchte sie wieder in den Wald ein, binnen von Sekunden war sie verschwunden. Nur langsam schlug er die Augen auf. Bis in seine letzte Faser hinein war das Gefühl der Reinheit und Freiheit gedrungen. Er genoss es lang, stand herum und blickte verträumt gerade aus. Nur wie durch Watte drang das Flügelrauschen von Mutter Uhu an ihn heran. Sie setzte sich vor ihm nieder und blickte, den Kopf schief legend zu ihm auf. Doch es kümmerte Calyon nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich frei. Er erinnerte sich an das, was war, auch an jenes vor dem Turm. Er erinnerte sich an die alten Geschichten seines Vaters, die langen Abende in der Lederwerkstatt. Er erinnerte sich an den Geruch, die Stimmen, wie es sich anfühlte. Es fühlte sich lebendig an. Er fühlte sich lebendig an. Nur sanft unterbrach ihn Mutter Uhu. „Aessina vermag jene zu ändern, die sie sehen. Und dich hat sie mehr verändert, als rein äußerlich.“ Ein Lächeln schob sich in den verträumten Blick des Elfen. Er schob eine Hand in den Nacken, wo eben die Hand der Frau geruht hatte. Er strich über das breite, runde Mal, welches nun dort auf seiner Haut ruhte. Noch eine Weile stand er so da, ließ den Wind mit seinen blauen Haaren spielen, genoss die Sonne, das Gras, den Geruch. Und die unendliche Freiheit, die ihm zuteil wurde. Ja, er war die Wildnis.