Calyon Bärenflanke

11.11.2013

 

Er hob den Blick an und räusperte sich. Vor ihm erstreckte sich der Eingang des Tempels, eingebettet in eine massive, von Ranken umwachsene Steinmauer. Das Mondlicht ließ alles in sanftem Silber leuchten, eingeschlossen den großen Druiden, dem der Eintritt in das Gebäude heute erheblich schwerer fiel als sonst. Calyon holte tief Luft, nahm seinen Mut zusammen und ging hinein.

 

Das sanfte, jetzt leicht violette Licht des Inneren schlug ihm entgegen. Fremde irritierte der Wechsel gern, doch Calyon wusste, wohin er wollte. Im weiten Bogen umrundete er den plätschernden Mondbrunnen, ging so der kleinen Gruppe gesprächriger Priesterinnen aus dem Weg, die es sich vor dem Brunnen gemütlich gemacht hatten. Im hinteren Teil des runden Bauwerks nahm er die Treppe nach oben ins erste Stockwerk. Calyon folgte dem Wehrgang, der den Blick ins Innere des Tempels und auf den Mondbrunnen erlaubte, bis er an einen weiteren Torbogen kam. Ohne Einladung hätte er es als Frevel emfpunden, dieses Tor auch nur anzusehen. Doch Schwester Flüsterwind hatte ihn eingeladen. Und so trat er nervös seufzend in den Gang ein.

 

Der Stein, der zuvor die Struktur des Tempels dominiert hatte, fand sich auch hier wieder. Zu beiden Seiten hin öffneten sich stets neue Bögen, die in die Zimmer der Priesterinnen und Novizinnen führten. Jedes war mit weißem Stoff verhangen, um den Blick zu versperren und wenigstens minimal Privatsphäre zu geben. Yanairel Flüsterwind hatte ihn angewiesen das vorletzte Zimmer linksseitig zu betreten. Es war simpel zu finden, zwei Zimmer davor befand sich jenes von Anorien, die ihn ab und an ebenfalls einlud. Calyon in seiner Größe und massiven Gestalt versuchste sich still und leise durch den Gang zu bewegen, was natürlich fehl schlug. Allein seine Masse verursachte bei jedem Schritt einen leisen, dumpfen Ton, der dummerweise vom Stein des Bodens und der Wände noch verstärkt wurde. So wunderte es ihn nicht, dass Yanairel, kurz bevor er besagtes Zimmer erreichte, durch den Vorhang trat und ihm zulächelte.

 

"Elune adore, Bruder," lächelte sie ihm entgegen und knickste dabei höflich. Calyon erwiderte mit einem respektvollen Nicken, wollte ebenfalls grüßen, doch wurde ihm das Wort abgeschnitten.

"Die Novizinnen warten schon und sind sehr gespannt. SIe haben mir shcon die wildesten Gerüchte über Euch erzählt!"

Er seufzte aus, doch Yanairel gluckste amüsiert. Sie zog den Vorhang beiseite und deutete in den Raum hinein. Es widerstrebte ihm einzutreten. Offenkundig saßen dort nur Frauen, die ihn nicht kannten aber schon sehr genau wussten, dass er ein alter, griesgrämiger und unleidiger Mann sei. Insgeheim nervte und deprimierte ihn dieser Zustand. Es half nur nichts, also stellte er sich dem immer und immer wieder. So auch dieses Mal, engegen seinen eigentlichen Willens. Yanairel, die scheinbar mitbekam, dass ihm nicht ganz wohl war, nickte bestärkend. Noch immer lächelte sie den alten Mann wohlwollend und fast schon liebevoll an. Er sah sie an, erwiderte das Lächeln kurz und und trat mit einem warmen Gefühl im Herzen ein.

 

Der Raum war größer, als er gedacht hatte. Im Grunde genommen waren es zwei Räume. Im vorderen Teil war eine Art Lebensbereich mit zwei Sitzbänken, Tischen und Bücherregalen. Davon halb durch einen, mit hellem Stoff bezogenen, Paravent abgetrennt, befand sich der Schlafbereich. Auf den Bänken hatten es sisch fünf Novizinnen bequem gemacht, zudem waren einige Kräuter ausgebreitet, sowie Messer, Mörser und Schalen, um sie zu verarbeiten. Die jungen Frauen sahen fast schon erschrocken zu dem großen Druiden auf, der in dem elegant und fein verzierten Raum mit dem hellen Licht in seiner Masse und vergleichsweise dunklen Gestalt seltsam deplatziert wirkte.

 

Calyon brummte nuschelnd eine Begrüßung und nickte, blieb dann in seiner unbeholfenen Art schlichtweg vor der kleinen Sitzgruppe stehen. Die Novizinnen schluckten, senkten nach prüfenden Blicken untereinander die Augen und erwiderten leise den Gruß. Die ohnehin angespannte Atmosphäre verdunkelte sich noch. Nur Yanairels Lächeln konnte das alles nicht beeinträchtigen. Schmunzelnd schob sie sich, wie selbstverständlich, an Calyons Seite.

"Ich darf euch Bruder Bärenflanke vorstellen. Er ist seit vielen Jahrhunderten Druide des Zirkels und wird euch ab heute in der Kräuterkunde und - Verarbeitung unterrichten. Ich hole Euch einen Stuhl, Bruder."

Sie hatte wieder zu ihm aufgesehen und ihm erneut eines dieser liebevollen Lächeln geschenkt. Fast wie von allein war ihre Hand an seinen Arm geglitten, vermittelte ihm so Rückhalt. Calyons Herz setzte kurz aus, dann erwiderte er das Lächeln und nickte.

"Gern," war seine knappe Antwort. Als Yanairel sich fortbegab, sah er wieder zu den Novizinnen. Irritiert und überrascht hatten sie dem kleinen Schauspiel zugesehen, wurden nun ertappt, senkten den Blick erneut zu Boden und liefen dunkel an. Calyon wartete nicht lang, wandte sich in seiner tiefen, brummenden Stimme an sie.

"Seid so gut und stellt Euch vor," ermahnte er sie. DIe Frauen wechselten kurz Blicke.

"Nikaren," stellte sich die erste vor. Es folgten Ailorel, Brenahen, Lucandra und Eliandel. Keine von ihnen traute sich, dem alten Mann direkt ins Geischt zu sehen. Yanairel kam mit zwei Hockern wieder, stellte sie nebeneinander vor der Sitzgruppe auf und komplettierte den Kreis damit. Calyon quittierte alles mit einem "Gutgut." und setzte sich schwerfällig. Neben ihm ließ sich die Priesterin nieder, überließ dem Druiden aber das Wort.

"Hätten wir das geklärt. Dazu sei noch gesagt, dass ich Anreden in solchen Situationen mehr als unpassend empfinde. Solange ich euch also unterrichte, bin ich für euch Calyon, nicht Bruder Bärenflanke, Shan'Do, Meister oder Ähnliches. Und zum Schluss möchte ich euch bitten, eventuell aufkommende Fragen direkt zu stellen. Auch dann, wenn sie erst einmal nichts mit dem eigentlichen Unterricht zu tun haben. Ich werde vielleicht nich auf alle antworten können, aber ich kann es versuchen."

Die fünf jungen Frauen nickten zögerlich und sichtlich irritiert. Bevor sie sich eine Frage überhaupt hätten überlegen können, hatte Yanairel eine formuliert.

"Wie viele Schüler habt Ihr denn bereits im Bereich Kräuter unterrichtet?"

"Unzählige," war die plumpe Antwort. Calyon beugte sich vor und griff nach einer der Pflanzen. Sie war schlank gebaut mit dünnen Blättern und einer strahlend weißen Blüte.

"Wie heißt diese hier?"

"Friedensblume," antwortete Ailorel.

"Welchen Teil davon könnte man verwenden?" Calyon sah eine Elfe nach der anderen an. Sie tauschten fragende Blicke untereinander. Eine Antwort aber bekam der Mann nicht. Nach einem stillen Moment nickte er.

"Man benutzt die Blüte der Pflanze, zumeist als Tee aufgebrüht. Friedensblume entspannt und beruhigt und ist bedenkenlos jeden Tag verdünnt benutzbar."

Er schwieg für eine Weile und ließ den Frauen Zeit mitzuschreiben. Innerlich seufzte er leise, machten sie doch den EIndruck noch nie mit Pflanzen zu tun gehabt zu haben. Was ihm vollkommen entging war, dass Yanairel neben ihm zwar still blieb, aber beständig zufrieden in sich hinein schmunzelte.

Langsam war auch die letzte Novizin mit ihrer Schreibarbeit fertig geworden.

"Was denkt ihr, was man noch mit der Pflanze anstellen kann?"

Er ließ sie eine Weile in geduldiger Ruhe Blicke untereinander austauschen, auch wenn mit jedem verstrichenen Moment seine Hoffnung auf eine Antwort schwand. Doch er wurde positiv überrascht, da Nikaren doch noch reagierte.

"Ich sah eine Priesterin einem patienten eine weiße Bllüte geben. Er lutschte einige Momente daran. Könnte das Friedensblume gewesen sein?"

Die Novizin sah ihn fragend an, umso erleichterter, als er nickte.

"Sehr wahrscheinlich. Gibt man die Blüte direkt ist der Wirkstoff hoch konzentriert. So wird aus einem Beruhigungsmittel ein leichtes Schmerzmittel."

Calyon lächelte zufrieden. Nikaren grinste stolz, während sie und die vier anderen den neuen Fakt aufschrieben. Doch diesmal setzte der Druide gleich mit einer Frage fort.

"Wo wächst Friedensblume?"

"Auf Lichtungen!", schoss es aus Brenahen hervor. Erschrocken über ihre Spontaneinität lief sie dunkel an, sah zu Boden und nuschelte. "Glaube ich..."

"Stimmt. Sie wächst uaf hellen Lichtungen und Wiesen. Die Friedensblume mag es gern sonnig."

Zufrieden nickt der alte Elf. Er straffte den Rücken, streckte die Beine und erhob sich langsam. Währenddesssen sprach er weiter.

"Probiert den Tee der Blume bis zum nächsten Mal selbst aus. Und jede von euch sollte sich ein Exemplar eines Buches mit Zeichnungen und genauen Beschreibungen der Pflanzen besorgen. Nächstes Mal nehmen wir das uns das Silberblatt vor."

"Ihr geht schon?"

Yanairel hatte sich mit ihm erhoben. In ihrer Stimme klang leichte Unzufriedenheit mit. Als Calyon das bemerkte, hob er eine Braue an.

"Ich denke, das sollte für den ersten Unterricht genügen?"

Er war sichtlich unsicher. Die Situation wurde aufmerksam von den fünf jungen Frauen beobachtet. Yanairel seufzte aus.

"Schade. ich dachte, ihc könnte Euch noch auf einen Tee einladen."

Calyons Braue schwappte noch ein wenig höher, er sah sich kurz, vergeblich hilfesuchend um, dann räusperte er sich.

"Nunja, ich... vielleicht möchtet Ihr etwas nachbesprechen. Und ich sollte zum Pavillon zurück."

Sich selbst bekräftigend nickte er wieder. Zu seiner Verwunderung nickte auch Yanairel, wie gewohnt lächelnd.

"Dann suche ich Euch nachher dort auf."

Calyon verneigte sich knapp, aber respektvoll, vor der Priesterin, nickte dann den Schülerinnen zu, die aufgestanden waren und ihm gegenüber geknickst hatten.

"Macht das, Schwester Flüsterwind. Laub unter Euer aller Füßen."

Mit diesen Worten drehte Calyon sich um und verließ langsamen Schrittes den Tempel.