Die Sonne stand noch hell am Himmel, als eine plötzliche Bewegung im Bett den Kopf des weißen Säblers hochreißen und die Ohren aufstellen ließ. Die hellblauen Augen des Tieres musterten aufmerksam seine elfische Gefährtin. Anorien saß kerzengerade im Bett, die weiße Decke war bis zu den Knien heruntergerutscht. Sie schwitzte, der Atem ging schnell und panisch tief. Sie verharrte so einen Moment, den sie brauchte, um zu realisieren, dass sie geträumt hatte. Der Säbler erhob sich langsam, träge, trat ans Bett und setzte sich davor wieder. Den massigen Kopf schob er auf die helle Bettdecke und sah die Elfe ruhig beobachtend an. Anorien seufzte aus, strich dem Tier liebevoll durchs Nackenfell. Langsam beruhigte sie sich. "Ich hoffe, so etwas träume ich nicht so bald wieder," nuschelte sie und legte sich hin. Sie hatte noch immer die Hand im Fell, als der Schlaf sie schon wieder einholte.

Anorien fand sich in absolutem Dunkel wieder. Eine Vorahnung und gleichzeitige Angst beschlich sie; es könnte der gleiche Traum erneut sein. Er fing stets so an. Sie bemerkte, dass sich um sie herum eine größere Höhle auszubilden begann. Diese war immernoch dunkel, doch erglommen fahl und wie entrückt aus dieser Welt, violette und grüne Bodenrunen, die alles in fahles, unwirkliches Licht hüllten. Anorien vermochte es nicht, sich zu bewegen. So wandte sie den Blick umher. Ja, es kam ihr alles vertraut vor, fast schon zu vertraut. Lins von ihr sah sie die einzigen beiden Personen in dieser Szenerie. EIner Kreuzigung gleich hatte man die beiden Brüder, die sie noch vor wenigen Wochen in Darnassus' Tempel kennenlernen durfte, an der Wand aufgehangen. Nun, da das Licht derart matt war und die beiden die Haare ins Gesicht fallen ließen, sahen sie wirklich wie zwei identische Elfen aus. Bewusstlos hingen sie da und bekamen so nicht einmal mit, das Bänder dunkler Magie ihre Haut entlangliefen und ihre Kreise zogen.

Eine große, dunkle Statur trat aus dem Dämmerlicht und näherte sich den beiden Hängenden langsamen und ruhigen Schrittes. Anorien wuste, was nun geschehen würde. Alles in ihr drängte danach, diesen Traum zu verlassen, so schnell es ginge. Die hinzugetretene Statur bewegte sich, hob einen Arm. Etwas blitzte unter dem Stoff der dunklen Robe hervor. Panik erfasste den Geist der Besucherin. Sie wollte es nicht sehen, sie wollte es nicht wissen. Als die Statur sich zu einem der Elfen beugte, ihn fast vollkommen vor Anoriens Sicht vergrub, wurde es schlagartig blendend hell.


Die Sonne stand noch immer hell am Himmel, als der Säbler erneut von einer plötzlichen Bewegung im Bett aufgescheucht wurde. Er stellte die Ohren auf und musterte die Elfe, die starr vor Schreck und kerzengerade im Bett saß. Panisch blickte sie zu dem Säbler, während sie hastig Luft in und aus ihre Lungen jagte. EInen kurzen Moment später schlug sie die Decke zurück, huschte aus dem Bett an dem Tier vorbei und zur Kommode hin. "Dann schlafe ich eben gar nicht mehr!", fauchte sie und begann sich umzukleiden.

Seufzend betrachtete sie sich im Spiegel. Konnte es sein, dass sie durchdrehte? Eine Nacht nach der anderen sah sie immer wieder, eins um andere Mal, den gleichen Traum. Sie war es langsam leid, den Brüdern beim Sterben zuzusehen. Shions massiger Kopf stupste gegen Anoriens Bein. Sie sah herunter und strich durch die weiße Mähne des Tieres.

„Vielleicht sollte ich doch langsam mit jemandem reden, hm?“

Der Säbler schrägte den Kopf leicht, hob ihn dann an und leckte dann kurz mit der rauen Zunge über ihre Hand. Anorien schmunzelte und nickt zur Bestätigung.

„Dann gehe ich mal jemanden suchen.“

 

Nachdem sie den Sitz der weißen Robe noch einmal überprüft hatte, trat sie leise aus ihrem Zimmer heraus. Sie sah sich um, wie immer. Gesehen wollte sie, wie immer, nicht werden. In den hellen Gängen des steinernen Tempels war niemand zu sehen. Ein leichter Wind ging durch den Gang, ließ die weißen Vorhänge, die die einzelnen Zimmer der hohen Schwestern und Novizinnen trennten, sachte wedeln. Hinter hier schlich sich Shion auf den Gang, musterte ihn in gleicher Weise. Vorsichtig, um keinen Laut zu erwecken, machte Anorien den ersten Schritt.

„So leise heute unterwegs?“, erklang eine fremde Stimme hinter ihr. Sie zuckte regelrecht zusammen, Shion war binnen Sekunden umgesprungen und hatte sich schützend vor ihr platziert. Anorien brauchte einen Moment des Sammelns, bevor sie sich zur Stimme umwandte. Lächelnd stand eine Elfe vor ihr, die Elune selbst hätte sein können. Ein Lächeln aus einem warmen, gütlichen und erfahrenen Gesicht schlug ihr entgegen und untermalte die sanfte, ruhige Stimme bestens. Helles, weich fallendes Haar, teils zu kleinen Zöpfen geflochten, umrandete das hübsche Gesicht. Die aufrechte, dünne Statur war in eine edle, weiße Robe gekleidet, an der bald mehr Gold eingewoben worden war, als Anorien je gesehen hatte. Doch kannte Anorien sie nicht. Verwundert blickte sie die offenkundig erfahrenere Priesterin an.

„Ouhm... Verzeihung. Ihr seid?“, fragte sie vorsichtig. Auch wenn sie eigentlich gleichen Ranges war, war es nie gut eine erfahrenere Schwester zu reizen. Doch die Elfe schmunzelte.

„Verzeiht, Schwester. Yanairel Flüsterwind ist mein Name.“ Sie verneigte sich ein wenig, wodurch ihr einige Strähnen und ein kleiner Zopf mit einem goldfarbenen Mondanhänger ins Gesicht fielen. Beim Aufrichten strich sie sich diese zurück und blieb bei ihrem warmen Lächeln. Anorien war irritiert ob der Ausstrahlung dieser Person. Sie hatte nur Geschichten über solche Frauen gehört, die eine derartige Aura verfügten. Nun aber fühlte sie, wie auch sie diesem Einfluss erlag. Auch sie lächelte.

„Anorien Krähenflug heiße ich. Erfreut Euch kennenzulernen.“

Yanairel nickte respektvoll. „Ihr schleicht Euch des Öfteren auf den Gängen herum, nehme ich an? Ihr wirkt sehr routiniert.“

Anorien räusperte sich. Sie spürte, wie ihr das Schamesdunkel ins Gesicht stieg.

„Ouhm... Nun...“, damit fehlten ihr die Worte. Sie schlich gern und viel. Ihr war es unangenehm, überhaupt gesehen zu werden. Nur warum? Es erleichterte sie, dass Yanairel das Wort wieder ergriff.

„Ah, ein Gespräch auf dem Flur ist immer etwas leidig. Habt Ihr etwas gegen einen Tee unten am Mondbrunnen?“

Fast schon übereifrig, ohne auch nur einen Moment nachzudenken, nickte Anorien.

„Ich bringe den Tee!“

Lächelnd winkte Yanairel ab, bestätigte aber auch gleich wieder mit einem Nicken. „Dann gehe ich vor. Ich warte auf Euch, Schwester Krähenflug.“

Yanairel schritt elegant an ihr vorbei. Hätten ihre Schuhe nicht ein leises Tocken bei jedem Schritt von sich gegeben, Anorien hätte gemeint, sie würde schweben.

 

Es dauerte keine Viertelstunde bis der Tee aufgebrüht war. Anorien war durcheinander. Sie kannte diese Frau nicht, aber sie kam ihr derart vertraut vor, sie hätte ihr in dem kurzen Gespräch ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Ohne auch nur einmal zu zögern. Sie trug den Tee auf einem Tablett, zusammen mit zwei Teeschalen. Aus irgendeinem Grund hatte sie eines der besseren Porzellane gewählt. Ihr schien nichts wirklich gut genug gewesen zu sein, so dass sie sich letztlich für ein reinweißes entschieden hatte. Damit konnte man nicht falsch liegen.

Shion folgte ihr auf Schritt und Tritt, wie gewohnt. So war es auch der Säbler, der zuerst in den, auch für die Bevölkerung offenen, Tempelraum trat. In der Mitte prangte der Mondbrunnen, in dessen Mitte Haidenes Statue wie immer eine Wasserschale zu Elune erhob. Glitzernd floss das Wasser aus der Schale heraus und fiel in den weiten Brunnen zu ihren Füßen. Anorien ließ den Blick wandern, bis er an einer Bewegung hängen blieb. Es war schwer in dem matten, violetten Licht und dem vielen Geglitzer etwas Bestimmtes ausfindig zu machen. Aber diese Handbewegung stach heraus. Ihr Herz hüpfte ein kleines Stück, sie fing an zu lächeln und ging herüber.

Yanairel saß am Rand des Brunnens auf dem grob behaunen Stein. Lächelnd deutete sie auf den Platz neben sich.

„Setzt Euch doch.“, wurde Anorien angeboten.

Sie stellte zunächst das Tablett ab und goss erstmal ein. Yanairel schwieg und beobachtete sie aufmerksam, aber nicht unangenehm. In ihrem Blick, und das spürte auch Anorien, lag etwas aufmerksam mütterliches. Sie gab der erfahreneren Priesterin eine der gefüllten Teeschalen hin.

„Es ist leichter, grüner Kräutertee von einem ansässigen Teemischer.“

Yanairel nahm die Schale entgegen und nickte dankend.

„Wenn er Euer Vertrauen genießt, muss er sehr gut sein."

Anorien schmunzelte. „Ist er.“

Sie nahm sich selbst die andere Teeschale und blies darüber. Über den Schalenrand hinweg beobachtete sie die hohe Schwester. Neben ihr kam sie sich wie eine Novizin vor. Sie zog es vor sich schlicht zu kleiden und nicht im Gedächtnis anderer zu verweilen. Aber selbst jemand, der auf sich aufmerksam machen wollen würde, würde neben dieser Frau verblassen. Leise seufzte sie innerlich auf.

Yanairel schwieg eine lange Weile. Sie schloss die Augen, nahm den wohligen Geruch des Tees auf und entspannte erst einmal. Erst nach einem kurzen, die Temperatur prüfenden Nippen des Tees, sah sie wieder zu Anorien hin. Sie lächelte, immernoch.

„Nun, Schwester Krähenflug? Was beschäftigt Euch so sehr, dass Ihr Euch entziehen wollt?“

Anorien schluckte. War sie so durchsichtig geworden? Sie wurde unsicher, sprach leiser.

„Ouhm... nichts wirklich, wenn ich ehrlich bin.“

Die Priesterin hob eine Braue und nippte am Tee. Sie schwieg, ließ Zeit vergehen. Anorien wurde unsicherer. Sie sprach noch leiser.

„Nunja. Also nichts stimmt nicht unbedingt. Aber... es ist nicht sonderlich wichtig!“

Yanairel schwieg noch immer, nippte erneut am Tee. Noch einmal blies sie darüber. Das Lächeln war verschwunden, sie wirkte ernst. Als Anorien das erkannte, räusperte sie sich und blickte zur Seite weg. Als sie nun sprach, war es vielmehr nur noch ein Flüstern.

„... ein paar Träume, die mich irritieren.“, gab sie kleinlaut zu.

Die Priesterin schlug die Augen auf und musterte sie eine Weile, bevor sie nickte.

„Träume sind immer wichtig. Sie verraten etwas über uns selbst.“

„Doch nicht diese. Im Grunde... im Grunde ist es immer der gleiche. Und es ist keiner, den ich gerne habe.“

Anorien seufzte, Yanairel hob beide Brauen an und sah nun sehr interessiert drein.

„Euch ist bewusst, dass wiederkehrende Träume immer eine Botschaft an Euch sind?“

Anorien schluckte. Sehr langsam nickte sie.

„Ja. Aber... ich wüsste nicht, was dieser sagen sollte.“

Leise lachte die ältere Elfe auf.

„Dann erzählt ihn einmal! Vielleicht kann ich Euch helfen?“

Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Anorien sah auf den Tee in ihrer Hand und schwieg. Shion schob sich in ihr Blickfeld. Der Säbler setzte sich vor sie und sah sie abwartend an. Zu allem Überfluss noch stieß das Tier ein ungeduldiges Brummen aus, als wolle es seine Gefährtin zum Reden bringen. Genervt seufzte Anorien und fing leise und betrübt an zu reden.

„Ich schlafe relativ normal ein und finde mich dann in einer dunklen Höhle wieder. Sie wird durch farblich glimmende Runen am Boden erhellt. Ich kann mich nicht bewegen, sondern nur zusehen. Ich sehe eine Kreuzigung, deren Opfer zwei Brüder sind, die ich kürzlich erst kennenlernen durfte. Sie sind bewusstlos, aber von der Magie befallen, die wohl auch die Bodenrunen formte. Den beiden nähert sich eine dunkel gewandete, große Person. Ich kann sie nicht erkennen und sehe nur, wie sie etwas auf einen der beiden zustößt. Dann wache ich auf.“

„Und Ihr denkt ein Problem zu haben?“ Yanairel schien amüsiert. Entrüstet sah Anorien sie an.

„Aber die beiden Brüder!“

Vehement stand sie auf, sah die Ältere anklagend an.

„Ihnen geht es vielleicht nicht gut!“.

Yanairel lächelte ihr nur ruhig entgegen.

„Und Ihr braucht eine halbe Ewigkeit, um das zu realisieren und kommt ihnen nicht zu Hilfe.“

Das war wahr. Und diese Wahrheit traf Anorien wie ein Schlag in den Magen. Sie senkte den Blick, zog die Brauen zusammen.

„Ihr habt recht.“

Entmutigt setzte sie sich wieder auf den Brunnenrand.

„Ich hätte früher handeln müssen.“

Noch immer schmunzelte Yanairel.

„Ja. Aber das ist jetzt egal, denn Ihr wart bereits zu langsam. Jetzt wisst Ihr es und solltet anfangen zu reagieren. Ihr kanntet die Brüder. Haben sie euch gesagt, wer sie sind und was sie in Zukunft vorhatten?“

Verblüfft sah Anorien wieder auf und musterte ihre Gegenüber. Normalerweise würde man ihr doch jetzt eine Predigt halten, sie hätte früher agieren müssen? Normalerweise wäre man doch sauer geworden? Hätte sie für schuldig erklärt? Sie war so irritiert, dass sie nur stockend antwortete.

„Ouhm... Sheyran und Souran hießen sie... Und... oum... aus dem Eschental kamen sie. … Und wollten dahin auch wieder. .. Sie sind Lederhandwerker.“

Yanairel lächelte aufmunternd.

„Sehr gut. Dann geht Ihr jetzt los, sammelt Eure Freunde und startet einen Ausflug ins Eschental. Bevor Ihr abreist, seid so gut und gebt mir bescheid.“

Lächelnd stand die Priesterin auf und stellte die geleerte Teeschale ab. Bevor Anorien reagieren konnte, sprach sie bereits wieder.

„Der Tee war gut. Bei Zeiten solltet Ihr mich mit dem Herren Mischer bekannt machen. Entschuldigt mich jetzt bitte, Schwester Krähenflug.“

Yanairel lächelte und verbeugte sich. In ihrer schwebenden Gangart trat sie aus dem Tempel und ließ die bewegungslos irritierte Anorien zurück.