No Name (... bekommt vielleicht noch einen...)

Kapitel 1

 

Tief inmitten des Waldes gelegen, der sanfte Berghänge umschmeichelte, war Tanghal schon immer ein schönes Dörfchen gewesen. Behütet von hohen Bergen, deren Gipfel zärtlich von Schnee umspielt wurden und deren Hänge hochgelegenen Wiesen Platz gaben, war das Dorf ein Hort von Ruhe und Frieden. Nutzvieh stand in Ställen, ein kleiner, geputzter und von den Bewohnern liebevoll behandelter alter Schrein zu Ehren der Götter fand sich in der Mitte des kleinen Marktplatzes. Zwischen den niedrigen Giebeln der alten, aus dicken Holzbalken erbauten Häusern mit den kleinen, liebevoll mit Blumen bestückten Hinterhöfen, vollzog sich Tag für Tag der gleiche Rhythmus des Alltags. Die Frauen wuschen die Wäsche, kümmerten sich um das Essen, säuberten die Ställe, während die Männer Holz schlagen gingen, auf der Jagd waren, das Vieh auf die Weiden brachten oder sich um die kleinen Felder des Dorfes scherten. Die wenigen Kinder halfen den Erwachsenen, bevor sie das Dorf in spielender Weise in ihrer Sicht erkundeten. Jeden Tag bot sich das gleiche Bild. Die erste, kleinere der beiden Sonnen zog auf, tauchte zuerst die Berggipfel, dann die Hänge, den Wald und zum Schluss das Dörfchen in mattes, rötliches Licht. Zu dieser Zeit war es nur das Vieh, das sich aus dem Reich der Träume erhob, die sanften Nüstern in den Futtertrog vergrub. Erst viele Minuten später lugte auch die zweite Sonne über die Berggipfel, schickte dem kleinen Dorf kräftige Sonnenstrahlen entgegen. Männer, Frauen und Kinder stiegen aus ihren Betten. Nur einer von ihnen, der legte sich gerade hin.

 

 

 

~

 

 

 

Als beide Sonnen in Tanghal aufgingen, gingen sie in Rudaran gerade unter. Der Wind pflügte durch die dunkle Stadt, ließ aufgehangene Wäsche und das Laub der Bäume wehen. Der Wind erfasste auch das helle Haar des Spitzohrigen, der am Balkon eines großen Hauses stand und scheinbar die Stadt überblickte. Tanghal war kein Vergleich zu Rudaran. Diese Stadt war überladen mit Prunk: Große, prächtig geschmückte Häuser, die von hellen Lichtern erleuchtet wurden, kleideten die Straßen. Das Zentrum der Stadt bildete der typische Marktplatz, dessen Mitte von einem hohen, reich verzierten Schrein geziert wurde. Darum herum hatten sich mit der Zeit Marktstände gesammelt, umzingelt von Wohnhäusern mit Läden der Bewohner. Viel verkauften sie hier, von Lebensmitteln über Gewürzen hin zu Stoffen und Waffen. Bekannt war die Stadt für ihre Masse an Büchern, die allenthalben feil geboten wurden, von Kopien bis hin zu Eigenkreationen war hier alles zu finden. So verwunderte es auch nicht, dass die in dieser Welt größte Bibliothek hier beheimatet war. Und nicht nur diese war hier ansässig, in ihr lebten viele der Gelehrtesten des Landes. Und jene, die solche werden wollten.

 

 

 

Das Gebäude, aus hellem Sandstein gebaut, besaß einen viereckigen Grundriss mit Innenhof. An den Ecken des Gebäudes stach je ein Turm in die Höhe. Kleine Balkone ragten in großer Zahl aus dem Gebäude heraus und Säulengänge verbanden den Innenhof mit den Räumen der Bibliothek. Der Innenhof selbst war reich bepflanzt worden, Bäume, Bänke und Brunnen schufen eine ruhige, feengleiche Atmosphäre. In den Hof selbst gelange man durch ein Tor, das in Richtung der großen Straße zeigte, die zum Marktplatz führte. Die Außenseite des Gebäudes war mit Bändern aus silbernen Runen verziert. Als die waagerecht verlaufenden Bänder auf das Tor trafen, begannen sich um die beiden senkrechten Säulen, die aus dem Haus herauswuchsen, hinauf zu ziehen und sich zu schlängen, bis sie auf den breiten Sandsteinsims trafen, der das Tor nach oben hin beschränkte. Der Sims selbst trug ein großes Füllhorn, das Symbol des Gottes Skire, der für Wissen, Weisheit und reiche Ernte stand.

 

 

 

Einige der hier Anwesenden lebten sogar hier. In weiße Roben mit silbernen, langen Gürteln gekleidet, schritten sie Tag für Tag die Gänge entlang, von Leseraum zu Leseraum. Manchmal fand sich der ein oder andere Gelehrte an einem Brunnen oder unter einem Baum des Innenhofes ein. Neben den vielen Stunden des Lehren, Lernen und Lesens hatten sich die Gelehrten auch in anderen Diensten organisiert. Sie zogen sich von Reinigungs- und Putzdiensten hin zum Kochen und zur Pflege des Innenhofes. Oftmals sah man also die weißen Gewänder andere Arbeiten verrichten, die man den gepflegten Wesen, die sie trugen, nicht auf dem ersten Blick zugetraut hätte.

 

 

 

Und genauso verhielt es sich mit dem spitzohrigen Beobachter, der nun, am Abend, seinen Blick über die Stadt streifen ließ. Am Tage war es seine Aufgabe gewesen, die Beete des Innenhofes von Unkraut zu reinigen und noch war es ihm nicht gegönnt gewesen sich von den dunklen Resten der Erde zu befreien. Darüber unwohl rollte er mit den Schultern, wandte erst danach den nachdenklichen Blick von der Stadt ab. Der Spitzohrige drehte sich um, blickte in sein kleines Zimmer zurück. Neben vielen Vorhängen, die Balkon von Innen und Bett vom restlichen Innenraum trennten, lag ein Stapel Bücher auf dem Boden neben einem Tisch. Besagter Tisch selbst trug eine kleine Destillationsapperatur, die fröhlich gluckernd und tropfend verkündete, dass sie im Gange war. Durch die Destillationsbrücke in die Vorlage hinein tropfte etwas gelbliches, während im Kolben eine rötliche Flüssigkeit blubberte.

 

 

 

Seufzend lenkte das Spitzohr seine Schritte zum Tisch. Präzise beobachtete der Elf die sich langsam formenden Tropfen, zählte sie, während er eine bestimmte Zeit wartete. Danach nickte er, setzte sich an den Tisch, griff sich eines der Bücher. Einige leere Seiten beinhaltete es noch, denen es aber nun an den Kragen ging. Hochkonzentriert begann er zu schreiben, Werte in Tabellen einzutragen. Das weiße Haar fiel ihm ins Gesicht, so dass der die Strähnen nach geraumer Zeit wegstreichen musste. Und jäh dabei zusammenzuckte. Laut hatte es an der Tür geklopft, schon war sie dabei sich zu öffnen. Murrend hob der Elf den Blick, stand auf und schob den Stuhl beiseite. Eine weiß gewandete Gestalt trat ein, nickte ihm zu.

 

„Grüße, Meister, in der Bibliothek erkundigt man sich nach Euch. Ich hoffe, Ihr habt Zeit.“

 

Eine Braue des Spitzohres hob sich. Bevor er nickte, musterte er seinen Gegenüber, ließ ihn den kalten, berechnenden Blick gelber Augen spüren. Ein junges und faltenfreies Gesicht war in seine Richtung gewandt, die dunklen Augen allerdings musterten schüchtern den Boden vor sich. Dünn, aber nicht unterernährt, ein paar sehnige Ansätze. Keine spitzen Ohren. Das war eine Neuerung der letzten Jahre gewesen: Die Bibliothek hatte für andere Völker die Tore geöffnet, da es an Nachwuchs zu mangeln begann. Tauren, Satyrn, Goblins, Zwerge, Gnome, Feen... all jene und noch mehr durften in dem alten Gebäude wandeln, die Nase in alte Bücher und altes Wissen stecken. So nickte das weißhaarige Spitzohr schließlich, drehte die Flamme des kleinen Brenners unter der Apparatur herunter. Leise nuschelte er ein gebrummeltes „Sicher.“ dem Menschen entgegen. Dieser hatte schnurstracks auf dem Absatz kehrt gemacht, war hochroten Kopfes in den Flur und außer Sichtweite geeilt. Leise, fast schleichend, trat der Elf ebenfalls hinaus, ließ die Füße sich ihren Weg zur Bibliothek suchen. Vorbei an Steinstatuen und Büsten von Gelehrten und Kämpfern, vorbei an den ausladenden Fresken und Bildern.

 

 

 

Menschen waren schon immer ein seltsames Völkchen für ihn gewesen. Die kleinen Ohren, der klobige Körperbau, die unelegante Art sich zu bewegen. All dies war schon äußerlich ein Grund für ihn, den Kontakt zu vermeiden. Dazu kamen die rohe Sprache, der grobe Humor, das offensichtliche Aufreizen. Am schlimmsten aber fand er die Faszination, die sie seinem Volk entgegen brachten. Stolz war darauf sicherlich kein Elf. Angeblich wünschten sich manche dieser Knollennasen sogar einen Elfen oder eine Elfin als Lebensgefährten. Angeblich gab es sogar Elfen, die sich in Vertreter des kurzlebigen Volkes verliebt hatten und ernsthaft mit ihnen zusammenlebten. Aber das musste einfach ein schlechter Scherz sein. Der Stolz und die Eleganz eines Elfen verbot eine solche Zusammenkunft. Sicher war das nur ein Scherz. Wobei inzwischen auch die Bibliothek ihre Pforten geöffnet hatte, obwohl sie einst nur für Elfen, den Hütern und Verfechtern des Wissens, gedacht war.

 

 

 

Schließlich schob sich das Bild der beiden ausladenden Torflügel in sein Gesichtsfeld. Das weißhaarige Spitzohr schüttelte sich um sich wieder aus seinen Gedanken zu reißen. Es machte nicht viel Sinn mit nur halbem Verstand anwesend zu sein. So stierte er kurz das Tor an, ehe er einen der Flügel beiseite schob. Leise knarzten die Scharniere des reich verzierten Holztores. Mit hoch erhobenem Kopf und voller Stolz trat der Elf in den großen Raum der Bibliothek ein.

 

 

 

~

 

 

 

Als die zweite Sonne den kleinen Ort Tanghal mit ihren Strahlen bedachte und nahezu sämtliche Einwohner des Dorfes aus ihren Betten krochen, machte sich einer gerade daran zu Bett zu gehen. Mindajal war der Nachtwächter der Ortschaft und harrte Nacht für Nacht auf einem kleinen Turm in der Mitte des Dorfes aus. Eigentlich sollten solche Türme mehrfach vorhanden sein und auch mehrfach besetzt sein. Doch was nützte es mehrere solcher Dinge zu bauen, wenn man von einem aus das Dorf und nahezu alle Felder drum herum gut sehen konnte? Tanghal war klein und damit reichte auch ein einzelner Turm und damit auch ein einzelner Nachtwächter. Seit geraumer Zeit schon war es Mindajal, der diesen Posten inne hatte. Sein Vater war bereits Nachtwächter gewesen und vor ihm dessen Vater. Und davor war es dessen Vater gewesen. Der Nachtwächter war ein angesehener Mann in dem kleinen Ort: Niemand sonst kümmerte sich Tag für Tag so um die Sicherheit der Anwohner. Und niemand sonst bekam dafür so viel Anerkennung wie Mindajal.

 


Wie jeden Morgen schritt der dunkelhaarige Mann die kleine Straße des Ortes entlang. Jeder Schritt wurde begleitet von dem leisen Klirren von Eisenschuppen, die gegeneinander schlugen und dem vom verschlammten Weg herrührenden Platschen. Er ging vorbei an den kleinen, geduckten Häusern, ging vorbei an den Hinterhöfen und den Ställen, in denen die Tiere vorhin erwacht waren. Nicht weit führte sein Weg, war nicht sonderlich anstrengend. Als Mindajal an seiner Hütte ankam, bückte er sich erst einmal, wobei die dünnen Dolche an seinem Gürtel gegeneinander klirrten. Wieder einmal hatte ihm Nuora, die alte Frau von nebenan, eine warme Mahlzeit gekocht. Dankbar lächelte er, blickte über den kleinen Hof zu dem Haus nebenan. Aber noch war niemand zu sehen und so hob er den Topf an und ging damit ins Haus. Warm war die Mahlzeit nicht mehr. So früh am Morgen würde hier keiner kochen und so stellte sie ihm den Topf meist abends schon vor die Türe. Aber es war etwas zu Essen. Er war der einzige Bewohner des Ortes, der sich nur wenig um seine eigene Ernährung, die Wäsche und sonstiges kümmern konnte. Er besaß auch keine Haustiere, wie es eigentlich in Tanghal Gang und Gäbe war. Am Morgen, nachdem er ein Feuer in Gang gebracht hatte und das Essen Nuoras noch einmal aufgewärmt und gegessen hatte, ging er zu Bett und verschlief den Tag. Oftmals graute schon der Abend als er wieder wach wurde und gerade an solchen Tagen hatte er dann nicht einmal mehr Zeit sich um die Pflege von Waffen und Rüstung zu kümmern, sondern musste geschwind den Weg zu seinem Turm hinter sich bringen.

So war es also auch an diesem Morgen, als Mindajal in sein Haus gegangen war. Den Topf stellte er auf dem kleinen, rußbedeckten Herd ab, dann wandte er sich um und legte Waffen und Rüstung ab. Mit einem weiteren Griff nahm er sich ein langes Hemd, das er sich überwarf und damit dann auch wieder aus dem Haus trat. Mittlerweile rannten die ersten Kinder herum, trieben mit Gertenstöcken Schweine auf die Weiden vor dem Ort. Er nickte grüßend, als der Mann Nuoras aus dem Nachbarhaus trat.

 

„Guten Morgen!“ ließ der alte Mann verlauten, die dunkle Stimme noch vom Schlafen rau. Erneut nickte Mindajal.

 

„Guten Morgen, Deralin.“

 

Mindajal selbst sprach wie immer leise und freundlich, strich sich dabei eine der langen Haarsträhne aus dem Gesicht.

 

„Na, wie war die Nacht? Ham die Fledermäuse dich gebissen?“

 

Mindajal zuckte mit den Ohren, als das raue Lachen des alten Mannes zu ihm herüber wehte. Das Geräusch war viel zu laut, dennoch ließ er sich nichts anmerken, lächelte und schüttelte den Kopf.

 

„Nein, ich bin noch unversehrt. Ruhig war die Nacht, fast einschläfernd. Nicht einmal ein Reh hat sich ans Dorf gewagt.“

 

„Na, dann is ja alles Bestens! Die Götter meinen’s gut mit uns hier in Tanghal. Das letzte Mal, als was geschah, war ich noch n kleiner Hosenscheißer.“

 

Wieder lachte der alte Mann auf, erntete dafür ein Schmunzeln des Jüngeren.

 

„Hoffen wir mal, dass die jetzigen „Hosenscheißer“ so was nicht erleben müssen, hm?“

 

„Ach…“ Deralin winkte schwungvoll ab, „Was soll n hier schon passieren? Wir sind so fernab von allem. Nuora hat gestern Fischsuppe gekocht. Die gute, mit den Kartoffelbrocken, du weißt schon. Warte, ich bring dir noch n bisschen Brot rüber. Du hast sicher keins mehr… warte…“

 

Irgendetwas musste der alte Mann noch gesprochen haben, als er sich schon wieder zur Tür umgewandt hatte und hineinstapfte, doch es verlor sich in Gemurmel und Gebrummel und der aufkeimenden Lautstärke des erwachenden Dorfes. Erneut schüttelte Mindajal den Kopf. Der Alte meinte es nur gut. Aber manchmal war es einfach zu viel. Lieber würde er sich sofort hinlegen und schlafen als Deralin noch eine Weile beim Erzählen von alten Tagen zuhören zu müssen. Der junge Mann ging zu seinem kleinen Holzhaufen und nahm sich einen Arm voll Scheite mit, bevor er wieder ins Haus hinein ging. Er mochte die beiden Alten von nebenan. Irgendwie waren sie für ihn wie Mutter und Vater geworden, nachdem sein eigener Vater gegangen war. Sie kümmerten sich fürsorglich um ihn, halfen, wann immer es ging. Im Frühjahr hatte Deralin ihm das Dach repariert, im Herbst das Holzlager aufgefüllt. Wann immer die beiden Alten etwas einkauften, herbeischafften oder organisierten, stets fiel davon etwas für Mindajal ab. Er konnte sich wahrlich nicht beklagen.

 

 

 

Er hatte gerade Zeit genug gehabt die Holzscheite ins Haus zu bringen und unter dem kleinen Herd, der als Ofen und Heizung zugleich diente, zu richten, als die Haustüre auch schon gleich aufgestoßen wurde. Deralin grunzte zufrieden, stapfte wie immer humpelnd heran. Leise ächzend setzte er sich auf eine der beiden Bänke an den Tisch vor den Ofen und beobachtete Mindajal bei seiner Tätigkeit. Schließlich aber hatte der junge Mann das Feuer in Gang gebracht und wandte sich zu dem Alten um.

 

„Da, dein Brot.“

 

Deralin schob ihm einen Brotlaib zu.

 

„Danke. Wie geht es Nuora?“

 

Sorge schlich sich in seine Stimme, während er den Brotlaib an sich nahm und nach einem Messer zu suchen begann.

 

„Wie soll s ihr gehen. Sie hustet und röchelt. Aber sonst geht’s ihr gut. Sie is störrisch wie immer, und solange sie das is, gibt’s keinen Grund sich überhaupt über irgendwas Gedanken zu machen.“

 

Wieder folgte ein raues Auflachen des alten Mannes. Mindajal setzte sich schließlich auf die Bank diesem gegenüber, schnitt das Brot entzwei. Die eine Hälfte des Brotlaibes wanderte in den Brotkorb, die andere Hälfte wurde in Scheiben geschnitten.

 

„Nunja... aber es geht ihr nicht besser. Umso länger sich sowas hinzieht, umso schlechter, oder nicht?“

 

„Ach, weißt du. In unserm Alter lernt man sowas akzeptieren und damit leben. Es is halt so.“

 

Nachdenklich schwieg Mindajal erst einmal. Langsam begann Dampf von dem kleinen Topf auf dem Herd aufzusteigen, schwach und noch nicht fähig genug um Geruch und Vorgeschmack auf das bevorstehende Mal in den Raum zu wehen.

 

„Aber wenn irgendetwas ist, du erzählst es mir doch?“

 

„Sicher. Warum auch nicht? Junge Hilfe kann ma immer gebrauchen!“

 

Wieder lachte der alte Mann auf, noch immer war der Laut zu laut für den anderen.

 

„Ich beziehe mich nicht auf Hilfe, Deralin. Also... ja, ich gebe sie euch natürlich, wenn ihr welche braucht. Aber Nuora... Ich könnte es nicht ertragen, wenn etwas Schlimmes wäre. Und ich nichts getan hätte.“

 

„Sorg dich nicht so, Jungchen. Ihr geht’s gut, mit geht’s gut, dir geht’s gut. Dem Dorf geht’s gut. Ah, da fällt mir was ein: Gestern, als du geschlafen hast, da – eh, der Topf!“

 

Erschrocken drehte Mindajal sich um und starrte erst einmal den Topf an, der gerade fröhlich am Überkochen war. Schließlich aber sprang er auf, griff nach einem Tuch und langte an den Topf. Doch das Tuch war zu dünn und die Hitze des warmen Metalls stach fast ungehindert in die Hände des jungen Mannes. „Uch!“ Und mit leisem Fluchen und einen Teil der Suppe verschwappend stellte er den Topf auf den Tisch.

 

„Verflucht! Ah... verdammt...“

 

Zischend und murrend stapfte Mindajal zu einem Eimer Wasser und legte die Hände hinein.

 

„Tja, so is das. Träumst nachts auf dem Turm genauso herum?“

 

Milder Vorwurf lag in Deralins Stimme, der dem jungen Mann ein misslauniges Murren entlockte.

 

„Nein, mit Sicherheit nicht. Nachts bin ich wach. Jetzt will ich Essen und Schlafen, alter Mann.“

 

Deralin schien heute übermäßig gute Laune zu haben, denn er lachte schon wieder auf. Mindajal trocknete sich die Hände wieder ab, fluchte noch einmal leise und setzte sich dann an den Tisch. Er nahm sich einen Teller, wurde ruhig beobachtet, wie er sich auftat und zu essen begann.

 

„Also gestern. Da kamen zwei Leute hier an. Die ham gefragt.“

 

Schweigen. Eine Braue hebend sah Mindajal von seinem Teller auf.

 

„Un?“

 

„Najo. Die ham gefragt. Nach nem Krieger. Und Rowahn, der olle Wicht, der hat denen gesagt er wär einer. Da ham's den „geprüft“, wie se das genannt ham. Verschlagen habens ihn und zwar nach allen Regeln der Kunst!“

 

Schadenfrohes Lachen hallte durch das Haus. Mindajal verzog das Gesicht, zuckte mit den Schultern und löffelte weiter.

 

„Rowahn war ja auch nie einer...“

 

„Eben drum ja! Najo. Jedenfalls wollens heut wiederkommen. Se meinen se haben gehört von nem Krieger von hier. Den einzigen, den wa haben, bist aber du. Ich würd also schnell viel schlafen und heut Nachmittag mal mit denen reden, wenn ich du wär.“

 

Unwohlsein stieg in dem jungen Mann auf.

 

„Warum? Warum sollte ich mich mit ihnen messen? Freiwillig? Muss ich mich denn vor irgendwem beweisen?“

 

„Ah, da spricht dein Vater aus dir. Aber du, das wird dir da nichts bringen. Die ham gesagt die brauchen nen Krieger. Und die wissen, dass hier einer ist. Also kommens auch wieder. Geh hin, verschlag se, wenn se unbedingt wollen und dann is Ruh, eh?“

 

Unlieb grumpfte der junge Mann auf, schob schließlich den leeren Teller von sich.

 

„Ich schau, was ich machen kann.“

 

„Braves Jungchen. Nuora macht dafür Schnitzel. Entweder um damit deine Wunden zu kühlen oder aber um se zu braten und dirn Festessen zu machen.“

 

Und mit einem wiederum rauen Lachen erhob sich der alte Mann und begann zur Türe zu humpeln.

 

„Dann schlaf man gut, Jungchen.“

 

Hinter ihm zog sich die Tür zu und ließ Mindajal allein im Haus zurück.

 

 

 

~

 

 

 

Nahezu brennend stach die Sonne des Nachmittags durch die dünnen Gardinen im Haus des jungen Mannes. Mindajal, inzwischen instinktiv vollkommen aufgedeckt, lag in seinem Bett, fröhnte einem durch Wärme unruhig gewordenen Schlaf. Noch schlief er ruhig, bekam er doch nicht mit, was vor seinem Haus geschah.

 


„Eh, geh beiseite. Wenn er hier wohnt, werden wir da rein gehen!“

 

Wüst war der Ton des gerüsteten Mannes auf seinem Pferd. Deralin hatte sich trotzig vor die Türe des Hauses gestellt und versperrte den Weg.

 

„Na, geh! Hau ab! Der Kerl schläft, ich sag’s dir! Wenn de nen Kampf willst, musste warten!“

 

„Ich werde aber nicht warten. Verschwinde, alter Greis. Oder soll ich andere Seiten aufziehen?“

 

Die penibel geputzte Rüstung und die elegant schulterlang und dunkel fallenden Haare vermochten nicht über dessen gereizten Ton hinweg täuschen.

 

„Willst nen alten Mann zusammenprügeln oder was? Nur weil de in Rüstung bist und hoch ufm Pferd, heißt des nich, dass de dir alles erlauben kannst!“

 

Zustimmendes Raunen machte sich in der Menschenmenge breit, die sich um die beiden Streitenden gebildet hatte.

 

„Wir sind hier, den Krieger zu suchen. Und das werden wir auch tun und nichts kann uns daran hindern. Also geh beiseite, alter Mann!“

 

Warnend ließ der Mann sein Pferd einen Schritt voran tun, doch Deralin blieb eisern in der Türe stehen.

Als ein lautes Poltern durch die Luft wehte, sich den Weg durch das Holz des Hauses hindurch suchte, saß Mindajal sofort kerzengerade im Bett. Einen kurzen Moment wollte sein Kreislauf, dass er sich wieder hinlegte und ruhte, doch der junge Mann sprang sobald es ging auf und schlug den Vorhang, der um sein Bett herum angebracht war, zurück. Sofort hatte er Überblick über den Innenraum des Hauses und erschrak. Deralin lag auf dem Rücken, über ihm schnaufend ein Pferd. Der alte Mann ächzte, lag auf der eingedrückten Tür und bewegte sich kaum. Auf dem Pferd saß jemand, soweit man das von dem einen glänzenden Stiefel ableiten konnte, der in dem nunmehr Torbogen anstatt Haustüre zu sehen war. Laut fluchte Mindajal aus, rannte zu Deralin und kniete sich sorgend neben diesem nieder.

 

„Alles in Ordnung, alter Mann?“

 

Deralin öffnete die Augen, ächzte und knurrte. Mehr vermochte er wohl gerade nicht heraus zu bringen, doch für Mindajal war es genug. Deralin würde wieder in Ordnung kommen. Wutschnaubend stand er auf, drehte sich zu dem Pferd und dessen Reiter herum. Ein feindselig musternder Blick schlug ihm entgegen, ließ Unbehagen in ihm aufsteigen.

 

„Wer seid Ihr und warum geht Ihr auf einen alten Mann los?“, schrie Mindajal dem Gerüsteten entgegen. Dieser ließ langsam ein grimmiges Lächeln in seine Züge wandern.

 

„Du musst der Krieger sein.“

 

„Es ist vollkommen egal wer und was ich bin. Ihr habt nicht das Recht in dieser Art mit jemandem umzuspringen!“

 

Fauchend schoss der junge Elf vorgriff in schneller Bewegung in den Zügel des Pferdes und riss dessen Kopf herum. Das Tier riss die Augen auf, schnaufte und versuchte der Bewegung zu folgen. Das grimmige Lächeln seines Reiters verschwand, als er versuchte sich auf dem sich so plötzlich bewegenden Tier zu halten. Es ächzte und polterte, als die glänzend polierte Rüstung im Staub des dürftigen Weges landete. Danach vernahm man ein Knurren, als der Mann sich wieder aufrichtete.

 

„Da habters!“ schnaufte Deralin, der inzwischen wieder auf die Beine gekommen war. Krummer als ohnehin schon stand er da, hielt sich den Rücken und zeigte sein Gesicht schmerzverkrampft. Mindajal hielt das Pferd fest in der Hand, war wieder ruhig geworden und sah dem Gerüsteten beim Aufstehen zu, der einige Fluchlaute von sich gab.

„Ja, da haben wir es. Entschuldigt diesen Mann, er ist ungestüm, aber ein eifriger Diener unseres Herrn.“

 

Nun endlich mischte sich auch der zweite der Besucher ein. Er war nicht groß gewachsen. Doch was er an Körpergröße nicht an Eindruck schinden konnte, machte seine Kleidung wieder wett. In eine dunkle Samtrobe gehüllt, deren Ränder mit Gold verstickt waren und in den Bordüren feinste Runen zeigten, stand er da, hatte die gesamte Szenerie über beobachtet. Nun aber wandte er sich an Mindajal.

 

„Verzeiht, wir müssen Euch geweckt haben. Man sagte uns, Ihr seid der Nachtwächter hier?“

 

Der junge Elf nickte und musterte seinen Gegenüber. Doch kein Wort kam über seine Lippen.

 

„Ihr seid sicherlich auf Euren Schlaf angewiesen, seid Ihr doch mit einer wirklich wichtigen und ehrbaren Aufgabe betraut worden. Doch seht, wir suchen jemand besonderes. Wir würden gerne sehen, ob Ihr vielleicht dieser Jemand seid. Oder ob Ihr Jemanden kennt, der es sein könnte.“

 

Ruhig lag der Blick des Mannes auf Mindajal. Seine helle Haut und das dunkel Haar harmonisierten perfekt mit der Robe, verliehen ihm trotz der offensichtlichen Jugendhaftigkeit ein würdevolles Aussehen. Aber mit diesem würdevollen Aussehen hatte sich auch eine gewisse Art Zweideutigkeit in das Auftreten des Mannes geschoben. Er war gewisslich gut darin mit Worten umzugehen, das wurde auch Mindajal klar. Und so schwieg er ein weiteres Mal. Genauso wie die kleine Menschenmenge und Deralin um ihn herum. Nur das Pferd, das er noch immer am Zügel hielt, schnaufte leise. Der Gerüstete war inzwischen wieder auf die Beine gekommen und klopfte sich murrend den Staub herunter.

 

„Ja, ich sehe, wahrlich gesprächig scheint Ihr nicht zu sein.“

 

Der Robenträger nickte in freundlicher Manier und lächelte. Irgendwie aber war es Mindajal nicht danach, ihm diese beiden freundlichen Gesten abzunehmen.

 

„Nun, wie Ihr jetzt wisst, sind wir auf der Suche. Wir würden Euch gern einmal einer kleinen Prüfung unterziehen, damit wir wissen. Wenn es Euch nichts ausmacht natürlich.“

 

Und wie Mindajal es erwartet hatte, wurde das eben noch freundliche Lächeln minimal hinterlistig.

 

„Ich fürchte, ich werde nicht drumherum kommen, hrm?“ Seidig sprach er die Worte, seinen Gegenüber in nichts nachstehend.

 

„Nicht wirklich, nein. Ihr könnt wählen, ob Ihr in diesem Aufzug, nur mit Lederhose bekleidet, jetzt gleich kämpfen wollt, oder aber Euch erst einmal etwas anzieht und Eure Waffen holt. Schließlich wollen wir einen gerechten Kampf von statten sehen gehen.“

 

Wieder dieses Lächeln. Mindajal ließ das Pferd los, machte kehrt und ging ins Haus zurück, gefolgt von Deralin.

Als der alte Mann eingetreten war, machte sich der junge Elf daran die Tür wieder aufzustellen.

 

„Warum hast du ihnen den Weg versperrt, Deralin?“ Er sprach leise und genauso leise bekam er seine Antwort.

 

„Se haben nur gefragt, wo de wohnst und wollten gleich zu dir. Kein Respekt diese Leute heutzutage!“

 

Müde lächelte Mindajal. Gutherzig wie immer, der Deralin, auch wenn er dafür Schläge einstecken musste.

 

„Ist gut. Hättest sie mal in Ruhe gelassen, hättest jetzt kein Rückenweh.“

 

„Schon. Aber du wärest im Schlaf von ihnen überrascht worden. So biste nur von mir überrascht worden. Und nem Pferd. Spaß beiseite, was wirst du jetzt tun? Du hast nicht die geringste Chance gegen diesen Kerl in Rüstung. Deine ist nur aus Leder. Und deine Waffen sind alt und schartig.“

 

„Auf alten Rössern lernt man Reiten. Ich lasse mir schon etwas einfallen. Mit Klingen kommt man weit. Mit Instinkt und Spontaneität noch weiter.“

 

„Mhm… gut. Aber nicht, dass du dich weichprügeln lässt!“

 

„Versprochen.“

 

Zwar war noch immer Unbehagen in Mindajal vorhanden, doch das kleine Gespräch mit dem alten Mann hatte ihn wieder fröhlich gestimmt. Deralin half ihm beim Anlegen von Rüstung und Waffen. Und staunte nicht schlecht, als Mindajal daneben noch einige kleine Klingen am Körper versteckte. Er war sich nicht sicher, ob er würde gewinnen können gegen einen voll Gerüsteten. Aber er war sich sicher, ihm eine Lektion in Sachen Benehmen und fremder Leute Türen erteilen zu können.

 

 

 

~

 


Der Raum war groß. An seinen Seiten zeigten sich hohe Fenster, durch die das Licht von draußen herein fiel. Seidig zeigte es sich hier, schwebten doch Milliarden feinster Staubkörner durch die Luft und brachen die Lichtstrahlen in viele kleine Teile. Der Raum war nicht nur groß, er war auch hoch. Zweistöckig, um genau zu sein. Beide Stockwerke waren vollgestopft mit hohen Regalen aus dunklem Holz, die wiederum mit vielerlei Büchern versehen waren. Eine enge Wendeltreppe in der Mitte bereitete den Weg in die obere Etage, die sich nur zur Hälfte über die untere erstreckte. Dennoch gab es am anderen Ende kleinere Balkone, die man durch lange und dünne, aber elegant eingebaute Brücken erreichen konnte. Die Ruhe dieser kleinen Balkone wurde oft geschätzt, man musste Glück haben um einen freien zu erwischen. Niemand störte einen dort, es war gerade Platz für den Schreibtisch, einen Ablagetisch und einen Stuhl darauf. Auf den etwas größeren, die aber wirklich nur minimal mehr Platz enthielten, stand auch mal eine größere Topfpflanze, vornehmlich kleine Bäume, die im Sommer zu blühen begannen. Während auf der zweiten Etage die Regale in Reih und Glied standen, waren sie in der unteren Etage ringförmig um die Wendeltreppe aufgestellt worden. Betrachtete man diese Anreihung von oben so bekam man den Eindruck es handele sich um eines der alten Labyrinthe, die früher oftmals aufgezeichnet wurden und Grundlage für heutige Spiele für Kinder waren.

Betrat man diesen Raum, befand man sich erst einmal auf einer Art kleinen Vorplatz, an dessen linker Seite ein Tresen stand. Dahinter hatte es sich eine alte, gebeugt gehende Elfe gemütlich gemacht. Sie verwaltete und organisierte die Bücher, deren Ausleihe und Rückgabe. Seitdem Dandraith hier war, war auch sie hier gewesen. Er gehörte inzwischen zu den älteren Semestern unter den Elfen, doch als er neu in diese Bibliothek eingetreten war, war sie schon da gewesen. Und war auch damals schon alt gewesen. Gea nannte man sie hier. Ob es aber ihr richtiger Name war oder ob sie, wie ab und an der Fall, noch einen Nachnamen trug, wusste so recht keiner mehr. Normalerweise, so meinte Dandraith, müsste es der Fall sein. Ab einem gewissen Alter gehörte das einfach dazu. Namen wurden vergeben für besondere Taten und selbst ein Elf vom Lande hatte einfach irgendwann einmal eine solche Tat vollbracht. Und sei es der Bau einer schönen Harfe gewesen. Die rechte Seite des kleinen Vorplatzes wurde von einer Büste eines Elfen geziert. Sie war alt und verwittert, hatte schon immer etwas Seltsames an sich gehabt. Angeblich zeigte sie den Begründer der Bibliothek, aber sehr viel mehr als ein klobiges Rund als Kopf und ein breites Rechteck als Oberkörper ließ sich nicht mehr erahnen. Mit viel Fantasie konnte man eine Nase und Augenhöhlen ausmachen, aber ein Gesicht darin zu sehen war inzwischen unmöglich geworden. Auch diese Büste war seit jeher so gewesen, schien aber, im Gegensatz zu Gea, in den Jahren der Anwesenheit Dandraiths nicht gealtert zu sein. Vom Sockel her zogen sich Efeuranken das Gebilde hinauf, grüben sich in die natürlichen Ritzen und Vorsprünge der Statue. Sie vollzogen ihren Wandel und waren das Einzige an dieser Büste, dass überhaupt ein Zeichen von vergehender Zeit zeigte. Im Sommer waren die Blätter grün, im Herbst rötlich, bis sie im Winter gelblich von den kargen Stängeln herab hingen, nur um im nächsten Frühjahr in hellem Grün wieder hervor zu sprießen.

Von dem kleinen Vorplatz aus konnte man direkt auf die Wendeltreppe sehen, links und rechts vom Weg gingen die vielen Gänge die Regale entlang ab. Das war auch das Bild, das sich dem weißhaarigen Spitzohr zeigte, als er den Raum betreten hatte. Oftmals war viel los zwischen den Gängen der Regale. Doch diesmal war es nur Gea, die ihm zunickte und auf die Wendeltreppe wies.

 

„Die Herrschaften sind oben. Sie wollten sich die Archive der Ländereien um die Stadt herum ansehen. Letzter Gang rechts, viertes Regal, drittes Fach von unten, Bücher sieben bis acht. Ansonsten fünftes Regal, drittes Fach von unten, Bücher acht bis zehn.“

 

Dandraith nickte, erwiderte nichts und begab sich die Wendeltreppe hinauf. Archive der Ländereien? Was sollte er damit zu tun haben? Er war Alchimist und wusste nichts, wollte nichts wissen, über die Wesen dieser Länder. Es sei denn sie konnten ihm weiterhelfen, was in diesen dümmlichen Provinzen allerdings in der Regel nicht der Fall war. Doch irgendetwas war komisch heute und fiel ihm auf, während er den von Gea gewiesenen Weg einschlug. Nirgends war eine andere Seele zu finden, außer der seinen. Als wäre die Bibliothek ausgestorben.

 


Das Gefühl revidierte sich aber sogleich, als er in besagten Gang einbog. Drei Personen standen an einem Regal, unterhielten sich angeregt. Zwei Männer, eine Frau. Dandraith ließ sich Zeit um vom letzten zum vierten Regal zu kommen. Die Männer waren recht uninteressant, in reich verzierte Roben gekleidet und mit zurückgeflochtenen Haaren waren sie die Ausgeburt des Adels dieser Tage. Die Frau aber erregte seine Aufmerksamkeit. Er sah nur ihren Rücken, dennoch faszinierte sie ihn schon jetzt. Hellblondes Haar, das dieser Tage durchaus selten geworden war, lag in sanften Wellen über den Schultern und den Rücken der Frau. Welliges Haar. Noch eine Seltenheit. Die spitzen Ohren stachen durch die blonde Mähne, waren filigran gewachsen. Anhand derer machte er die Hautfarbe der Frau fest: Ein helles Rosé vermutlich. Dandraith musterte ihren Umhang, der sich leicht um ihre Schultern zog. Seide. Rote Seide mit goldenen Verzierungen am Rand. Klassisch. Nicht ganz so klassisch aber war, was er darunter entdeckte, als die drei Personen sich zu ihm umdrehten. Sie trug Hosen. Eine Frau in Hosen. Mit Stiefeln. Schöne Hosen, schöne Stiefel, alles aus feinem Leder. Aber warum trug eine Frau so etwas? Den Blick von den Hosen abwendend machte er sich daran ihr Gesicht zu erkunden. Freundliche blaue Augen und ein schmaler Mund lächelten ihm entgegen. Keine Falte, keine Unebenheit, ein Paradestück elfischer Kultur. In Hosen. Die beiden Männer ignorierte er vollends, als er erhaben nickte, wie es seinem Stand gebührte, und die Frau als erstes begrüßte.

 

„Seid gegrüßt, hohe Dame. Selten sah man ein so vortreffliches Stück Schönheit durch unsere Hallen wandern. Mir scheint, eine der Statuen könnte lebendig geworden sein.“

 

Was er sonst an Murren und Knurren den anderen Gelehrten und Schülern entgegenbrachte, hatte sich nun in melodiös leise, charmante Worte gewandelt. Und sie verfehlten ihr Ziel nicht. Das Lächeln der Frau verbreiterte sich für einen kurzen Moment, für den sie den Blick kurz nach unten senkte. Nur um ihn mit einem elegant schwungvollen Lidschlag wieder auf Dandraith zu führen.

 

„Ich danke der freundlichen Worte, Dandraith Wolkenwanderer. Und ich danke für Euer schnelles Kommen. Wisset, ich brauche Eure Hilfe.“

 

„Jegliche Hilfe, die ich Euch geben kann, Milady, will ich Euch zukommen lassen.“

 

Eindeutig zweideutig, zumal er ihr Lächeln erwiderte. Dandraith wusste um seine Wirkung, oft genug schon hatte er sie genutzt um an diverse Informationen zu kommen. Doch meist sah sein „Opfer“ nicht ansatzweise so interessant aus wie diese Frau jetzt gerade. Noch immer lächelte sie.

 

„Gehen wir doch ein Stück. Schaut, mein Bruder hat schon das Buch gefunden, in dem wir einen Anhaltspunkt zu finden gedenken. Lasst uns doch hinein sehen, ja?“

 

„Wie Ihr es wünscht, Milady.“

 

Er folgte ihr, als sie sich in Bewegung setzte, musterte ihren Rücken erneut. Schönheit war nicht alles. Die Faszination schlich sich auf dem Weg zum Arbeitsplatz langsam dahin. Sie hatte sich nicht vorgestellt, wie es die Etikette erforderte.