Calyon - Merhan, Vergangenheit in vollen Zügen

Das Gähnen präsentierte die, selbst für seine Rasse, übermäßig großen Fangzähne, ehe die Kiefer mit einem Schnappgeräusch wieder zu klappten. Der Kaldorei räkelte sich, wischte ein paar Blätter beiseite, rollte auf die andere Seite und streckte eine Hand aus. Irgendwo da musste doch...

Urplötzlich grollte ein Knurren durch die Höhle, als der Elf sich plötzlich aufsetzte. Der Blick lief durch die Höhle, über den kleinen Erdhügel, den Bücherstapel, schließlich über das eigene Blätterbett. Er war allein. „MERHAN!“ Der wütende Ausruf war die logische Folge, die stets bei diesem alten Druiden einsetzte. Mühsam, noch immer schläfrig, rappelte er sich auf, brauchte einen Moment, bis er sich auf den Beinen halten konnte. Der Blick wanderte wütend zum Höhleineingang hin, von dem ihm das Sonnenlicht des wütenden Morgens entgegenschlug und blendete. Kräftige, bestimmte Schritte führten ihn aus der Höhle heraus, bis das Licht das dunkle Blau seines Haares zum Leuchten brachte.

Von all dem bekam das helle Säblertier nichts mit. Fast nichts, denn der wütende Schrei des Druiden hallte im Wald nach, jagte ein kurzes Zittern durch die Blätter. Der Säbler duckte sich tiefer ins Gebüsch, fixierte das Reh, dass achtsam bei dem Schrei den Kopf gehoben hatte. Doch der Wind stand günstig, nach dem Schrei wurde es wieder ruhig, so fraß das Tier wieder ruhig weiter. Merhan schlich sich etwas näher heran, doch noch immer war das Reh völlig ruhig. Er gab sich ein, zwei der ruhigen Atemstöße, dann zog er die Beine unter den Katzenkörper. Er nahm nur noch das Reh wahr, dessen Atem, dessen Bewegung, dessen Herzschlag. Als das Tier ihm den Rücken zudrehte, war es sich nicht darüber im Klaren, dass es seine letzten zwei Sekunden waren.

Mühsam hatte der dünne, hellhaarige Kaldorei das tote Reh über die Schulter geworfen, es genauso mühsam den Berg hinauf zur Höhle gebracht. Nun aber stockte sein Schritt, als er den großen Mann im Eingang stehen und ihn sich wütend anfunkeln sah. Ein Seufzen entglitt Merhan. Dass er auch immer genau NICHT so handeln musste, wie man es von ihm erwartete. „WAS? Ich habe dir hunderte Male gesagt, dass du nicht vor Sonnenuntergang allein raus sollst! Was denkst du dir? Ich habe dir so oft schon gesagt, was alles schief gehen kann!“ Und mit einem Auffauchen wandte sich Calyon ab und stapfte wütend in die Höhle zurück.

Merhan seufzte noch einmal, dann folgte er ihm nach. Das Reh landete in der Mitte der Höhle, direkt neben Calyons Füßen. Der Druide senkte seinen Blick darauf, stierte das tote Tier einen Moment lang an. Merhan verblieb neben ihm, musterte aufmerksam die sich langsam auflichtenden Gesichtszüge des anderen. Schließlich zogen sich, nur minimal und nur für jene sichtbar, die ihn kannten, die Mundwinkel Calyons in die Höhe. Ein Strahlen fand sich in Merhans Gesicht ein. Als er die Arme ausstreckte und um Calyons Taille schlang, ging es viel zu schnell, als dass der Alte sich hätte dagegen wehren können. Unter einem schmunzelnden Kopfschütteln erwiderte jener die Umarmung, senkte den Kopf und vergrub das Gesicht in dem langen, hellen Haar.

„Ich hab dir nur ein Frühstück besorgt, Calyon“, wurde leise genuschelt. Die größeren Finger fuhren durch sein Haar, nahmen sich eine der hellen Strähnen und begannen sie sachte zu drehen. „Ich weiß. Dennoch solltest du nicht ohne mich fort. Noch nicht.“, war die leise Antwort. Merhan sah zu ihm auf, ein Vorwand um den großen Mann noch fester zu umschlingen. „Ab morgen. Versprochen. Da bleibe ich liegen, bis der Bär aufgewacht ist.“ Er grinste breit, als ihn Calyons strafender Blick traf. „Lüg deinen Shan'Do niemals an.“ Damit löste jener die Umarmung und ließ sich neben dem Reh nieder. Merhan stemmte die Arme in die Hüfte. „Ich hab dich noch nie angelogen!“, protestierte er. Wieder lächelte Calyon leicht. „Insofern 'nie' sich auf den heutigen Tag bezieht, gebe ich dir recht.“

Einige Stunden später verließ ein gesättigter Bär die Höhle. Merhan sah ihm lange nach, ehe er sich auf dem Blätterbett auf den Rücken rollte und die Decke anzustarren begann. Calyon war in letzter Zeit seltsam geworden. Er war schon immer brummig und scheinbar niedergeschlagen. Aber Merhan fürchtete, dass er es diesmal wirklich war. Doch was setzte ihm so zu? Wann hatte es begonnen? Er versuchte sich zu erinnern, immerhin verbrachten sie jede freie Minute miteinander. Ein Lächeln zog sich durch sein Gesicht. Das war es, was er immer gewollt hatte. Calyon ließ ihn gehen, wenn er musste. Aber er hieß ihn auch immer wieder willkommen, ließ ihn seine kräftigen Arme spüren, wenn er es brauchte. Das Herz begann zu hüpfen und wurde warm, als er daran dachte.

Es war gewesen, als sie die Lektionen über das Wasser durchgesprochen hatten. Als sie zusammen im Wasser standen, die Bewegungsfolge für eine Welle geübt hatten, war es das erste Mal geschehen. Calyon war auf einmal stumm geworden, hatte einen seltsamen Blick zu Tage gefördert und ihn angesehen. Ein Schwall arkaner Magie war Merhan entgegen geschlagen und hatte erst aufgehört zu existieren, als Calyon sich geschüttelt hatte. Er hatte davon gesprochen, dass er den jungen Kaldorei brauchte, aber es war nicht wie sonst gewesen. Stimmlage, Wortwahl, Intension waren gerichtet, ernst gewesen. Und hatten ihm Angst gemacht. Danach hatte Calyon begonnen Kleinigkeiten zu vergessen, wie den kleinen Honigklau von vor zwei Wochen. Oder die ruhige Nacht von vor zwei Tagen, als sie stundenlang vor der Höhle gesessen hatten, zusammen unter einer Decke, den Mond angesehen und über ihn und ihr Leben philosophiert hatten. Da war Calyon wieder Calyon gewesen.

Doch wie konnte er ihm helfen zu bleiben, was er war? Wie konnte Merhan Calyon festigen, ihn sich erinnern lassen? Wieder lächelte er. Wenn ihm einer helfen konnte, dann sicherlich Remulos. Calyons Shan wusste so immens viel über ihn. Merhan rollte sich auf den Bauch und sah wieder zum Höhleneingang. Eigentlich brauchte er Remulos' Hilfe nicht. Er wusste mehr als er. Merhan zog mit einem seeligen Lächeln im Gesicht die Decke über den Kopf. Er war es gewesen, dem Calyon all seine Erinnerungen anvertraut hatte. Nach all den Jahren mit seinem Shan, mit diesem wundervollen, liebevollen und naiven Mann, war das die größte Ehre für den jungen Elfen gewesen. Und die größte Bestätigung dafür, dass seine 'Arbeit' Früchte trug. Er seufzte zufrieden, als ihn langsam der Schlaf übermannte. Das tat es immer, wenn er Calyon roch. Und wenn er davon träumte, wie wunderbar sein Leben mit ihm noch werden musste...