06.09.2012

 

Um Feralas hatte er einen Bogen gemacht, hatte die Gestalt gewechselt und den Abendhimmel als dunklen Schatten überquert. Der Geist in seinem Inneren hatte, trotz aller Sicherungsmaßnahmen zum Trotz, den Angst der unter ihnen vorbeiziehenden Welt gespürt, gespürt wie sich das Leben vor ihnen verkroch. Diese Situation war es, die Calyon am meisten hasste. Eingesperrt, zum Nichtstun verdammt, wartend, dass der andere schwach wurde, damit er endlich wieder gut machen konnte, was geschehen war. Aber würde er das dieses Mal überhaupt können?

Der Vogel ließ sich am Rande nach Tausend Nadeln in einem der Bäume nieder. Der bösartige Blick wandte sich umher, fixierte die Wasserelementare. Hass wallte in dem Vogel auf, Hass auf die Müdigkeit des alten, ungeschonten benutzten Körpers. Calyon knurrte innerlich. Natürlich war dieser Körper müde. Er war über zehntausend Jahre alt, hatte seit Wochen weder gegessen noch getrunken und war nur über dunkle Magie am Leben gehalten worden. Natürlich war er müde! Doch derlei Dinge interessierten den anderen nicht. Heftig, vom Ärger des Druiden angestachelt, pulsierte das Mal im Nacken des Körpers auf.

Der Körper wandelte sich in den Elfen zurück und setzte sich hin. Wenn er doch nur einen minimalsten Gedankengang zu Calyon durchlassen würde, dann hätte dieser wenigstens ansatzweise die Chance zu intervenieren. Aber nein, seit Wochen schon hielt er Calyon gefesselt und versteckt, wie jener es sonst mit ihm zu tun pflegte. Im Gegensatz zu seinem Zwilling aber war der Druide nicht in der Lage ewige Zeiten in diesem Zustand zu überleben. Und genau dies wusste auch er. Zudem war er klug genug es zu seinem Vorteil zu benutzen.

Lange saß der Körper so im Baumwipfel herum. Zeit, die Calyon erneut zum Nachdenken benutzte, genauso wie vermutlich sein Zwilling. In Gedanken ließ er die letzten Begegnungen mit anderen Elfen Revue passieren. Atthar, der seine vielen intelligenten Fragen gestellt und seinen Zwilling nervlich strapaziert hatte. Eine gute Idee, das andere Wesen in ihm besaß nicht ansatzweise genug Geduld für so etwas. Roseli, die sich ihm immer wieder, trotz aller Vorsicht, genähert hatte. Inzwischen hasste der Zwilling sie wie kein anderes Wesen auf diese Welt. Inständig hoffte Calyon, dass sich das Mädchen irgendwie dessen bewusst war und ihn gehen lassen würde.

Wehmütig dachte Calyon an die sieben Kaldorei, die sich vertrauensvoll an den vermeintlichen Elfen gewandt hatten. Sie waren nicht die Anwärter auf eine neue Schülerschaft gewesen wie die Unbekannte, die ihm den Alkohol verabreicht hatte. Sie waren einfache Frauen gewesen, Frauen mit Problemen, die eigentlich nur eine Schulter zum Ausweinen gesucht hatten. Noch ein Punkt, an dem Calyon zum Hoffen aufgefordert war. Diese leblosen Körper durften nicht gefunden werden. Und wenn doch, dann durfte Calyon damit nicht in Verbindung gebracht werden, was so ziemlich unmöglich war. Er würde Darnassus fernbleiben müssen, wenn er jemals wieder Herr seiner Selbst war. Wenn.

Die Chancen dafür standen deutlich schlecht. Der Druide wusste, wohin sein Zwilling wollte. Und er hatte Angst davor. Das letzte Mal, als er dort gewesen war, hatte er eine der wichtigsten Personen verloren. Terrick war ihm nachgejagt, lange und intensiv. Es war für den Zwilling schwer gewesen den Worgen auszutricksen. Doch allein die Tatsache, dass sie den Körper benebeln und fortschaffen wollten, einer ihm hinterher jagte, zeigte, dass sie ihm folgen würden. Oder es zumindest versuchten. Roseli war intelligent. Calyon ging davon aus, dass sie wusste, wo er hin ging.

Und da war es wieder, das Szenario, vor dem ihm so graute: Roseli, weitere Schüler, Unschuldige, alle im Versuch zu helfen, verstorben. Er war schon einmal dorthin gegangen, war nicht allein gewesen, hatte Helfer bei sich gehabt… und war gescheitert. Nie hatte sich Calyon davon erholt, immer diese Furcht im Nacken gehabt. Aber noch nie war auch die Hoffnung auf ein anderes Ende derart groß gewesen. Er war damals mit starken Kämpfern, großen Druiden unterwegs gewesen. Das hier waren Schüler. Und die konnte jemand Leichtsinniges sehr gut unterschätzen. Leichtsinn war eine der Schwächen des Zwillings.

Calyon bemerkte die Ruhe im Körper, sowie des anderen Geistes. Er stutzte, unterbrach sich in seinen Gedankengängen. Vorsicht war angebracht, wenn der andere am Lauschen war. Calyon vernahm das tiefe Knurren der eigenen, fremden Stimme, ehe er der Körper sich aufrichtete. Erneut wurde die Gestalt gewandelt, hoben dunkle, kräftige Flügel den Vogel in die Luft.